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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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verurteilen würden. Doch der Plan unserer Feinde scheint ein anderer zu sein, denn als im Osten der Morgen graut, beleuchtet er das schimmernde Band des Arachthos, der die Grenze zwischen dem osmanischen Epiros und dem griechischen Thessalien bildet.
    Mir wird klar, dass man vorhat, uns außer Landes zu schaffen …
    A RACHTHOS , E PIROS
F RÜHER M ORGEN DES 8. N OVEMBER 1884
    »Ich will absteigen«, verlangte Sarah, als der Zug endlich angehalten hatte.
    »Wozu?«, fragte Cranston.
    »Wozu wohl?«, schnaubte Sarah. Während des gesamten Ritts hatte sie sich tapfer beherrscht. Nun jedoch verlangte die Natur unwiderruflich nach ihrem Recht.
    Cranston lachte ölig. Dann wies er zwei seiner Leute an, Sarahs Ersuchen nachzukommen.
    Als man die Stricke löste, mit denen sie festgebunden war, wäre Sarah beinahe vom Pferd gefallen, so steif und durchgefroren war ihr Körper und so müde war sie vom langen Ritt. Vorsichtig ließ sie sich seitlich aus dem Sattel gleiten und sah sich von einem Pulk halbnackter Männer umgeben, die das Blau ihrer osmanischen Uniformen gegen zivile Kleidung tauschten: Hosen und Tuniken aus weichem Linnen, dazu weite Umhänge oder Westen aus Schafsfell. Den unumgänglichen Fes behielten sie meist auf oder umwickelten ihn mit hellem Stoff, sodass ein Turban daraus wurde; auch die Waffen behielten sie bei sich. Solange sie nicht sprachen, hätte sie nun jeder Beobachter für eine Bande griechischer Freiheitskämpfer halten können, was aus Sarahs Sicht nur einmal mehr den Irrsinn dieser Auseinandersetzung illustrierte.
    Cranston, der den falschen Schnurrbart abgenommen und sich die Farbe aus dem Gesicht gewischt hatte, übernahm es persönlich, sie ein Stück von den anderen wegzuführen – mit vorgehaltenem Revolver.
    »Fürchten Sie sich so sehr vor mir?«, erkundigte sich Sarah mit unverhohlenem Spott.
    »Von Furcht kann keine Rede sein, meine Teure. Aber man hat mich gewarnt, dass Sie immer für eine Überraschung gut sind. Nach allem, was ich erlebt habe, kann ich das nur bestätigen.«
    Auf einer kleinen Lichtung, die von dichtem Strauchwerk umgeben war, blieb Sarah stehen. »Drehen Sie sich um«, verlangte sie.
    »Ich bin Arzt, meine Teure. Sie haben nichts, das ich nicht schon gesehen hätte.«
    Sarah sandte ihm einen vernichtenden Blick. Als Cranston jedoch keine Anstalten unternahm, sich als Gentleman zu erweisen, wandte sie sich selbst ab und tat, was die Natur von ihr verlangte. Cranstons Blick dabei in ihrem Nacken zu spüren und sein hämisches Gelächter zu hören war demütigend.
    »Erinnern Sie sich an den Schwur, den ich geleistet habe?«, erkundigte sie sich, nachdem sie sich wieder angekleidet hatte.
    »Durchaus – Sie wollten mich zur Rechenschaft ziehen, wenn Kamal ein Leid zustößt.«
    »Falsch.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde Sie auf jeden Fall zur Rechenschaft ziehen, Cranston. Sie sind ein Schwein und ein gemeiner Mörder, und dafür werden Sie bezahlen.«
    »Noch ein Schwur?«, fragte er unbeeindruckt.
    »Nennen Sie es ein Versprechen«, sagte sie, ließ ihn stehen und ging zurück zum Rastplatz, ohne sich noch einmal umzudrehen.
    Die Verwandlung der Männer war inzwischen vollzogen. Auf Cranstons Befehl hin bestiegen sie die Pferde. Durch den Wald trieben sie ihre Gefangenen die Uferböschung hinab und gelangten zu der Kiesbank, die das Flussbett zu beiden Seiten säumte und eine Furt geformt hatte.
    Schon trieben die Ersten ihre Pferde in das eiskalte Nass, in dem die Tiere zunächst bis über den Bauch versanken. Dann jedoch stieg der Grund wieder an, und man gelangte ohne Mühe auf die andere Seite. Ein Soldat nach dem anderen passierte die Furt, auch Sarahs Rappe wurde am Zügel ins Wasser gezerrt. Da sie wieder an Sattel und Steigbügel gefesselt war, würde sie elend ertrinken, wenn ihr Pferd stürzte oder abgetrieben wurde, aber sie verzichtete auf jeden Protest. Cranston und seine Schergen hätten ohnehin nur darüber gelacht.
    Sarah spürte das kalte Wasser, das in ihre Stiefel drang und an den Hosenbeinen emporkroch, und sie fühlte den Druck der Strömung an ihren Unterschenkeln. Der Hengst warf unruhig das Haupt zurück, und da sie ihn weder mit den Zügeln dirigieren noch beruhigend tätscheln konnte, sprach Sarah mit leiser Stimme auf ihn ein und versuchte, ihn so gut wie möglich durch Schenkeldruck zu lenken. Ein gutes Stück rechts von ihr wurde Polyphemos durch den Fluss gejagt. Wie ein Standbild ragte er inmitten des türkisgrünen

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