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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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sie nie gefunden, weil sie weder Ihr Wissen besaßen noch Ihre Erfahrung.«
    Sarah überlegte. Sollte sie tief in ihrem Inneren tatsächlich gewusst haben, wo sich der verborgene Schacht befand? Das wäre zumindest eine Erklärung dafür gewesen, dass ihr jener rätselhafte Mönch erschienen war und den Weg gewiesen hatte.
    »Aber das würde ja bedeuten, dass … dass ich schon einmal an der Quelle des Lebens gewesen bin«, folgerte sie.
    »Ist Ihnen die Erzählung von Inanna und Tammuz vertraut?«, erkundigte sich der Zyklop.
    »Nicht genau«, gab Sarah zu. »Ich weiß, dass beide Götter des sumerischen Pantheon gewesen sind, aber …«
    »Tammuz war Inannas Geliebter«, sprang Hingis ihr bei, der in den altorientalischen Mythen besser bewandert schien. »Während Inanna die Göttin der Fruchtbarkeit und des Krieges war, wachte Tammuz als Gott des Feldes und der Natur über Wälder und Fluren. Aus Gründen, die nicht näher bekannt sind, begab sich Inanna jedoch auf eine Reise in die Unterwelt, von der sie beinahe nicht zurückkehrte. Um sie zu retten, nahm Tammuz ihre Stelle ein.«
    »Das ist wahr«, bestätigte Polyphemos, dessen Auge sich während Hingis’ Erzählung geschlossen hatte, als könne er im Geiste alles vor sich sehen. »Um Inanna zu retten, gab Tammuz ihr das Wasser des Lebens, und die Göttin konnte in ihre Welt zurückkehren.«
    »Eine schöne Geschichte«, bestätigte Sarah. »Und was hat sie mit mir zu tun?«
    »Diese Geschichte«, erwiderte der Zyklop, »ist die Antwort auf Ihre Frage. Ihr Verstand und Ihr Wissen haben Ihnen den Weg zur Quelle des Lebens gewiesen. Den letzten, entscheidenden Schritt jedoch hat Ihre Erinnerung für Sie getan.«
    »U-und das heißt?«, fragte Sarah, obgleich sie ahnte, dass die Antwort sie ängstigen würde.
    »Das wissen Sie doch längst«, sagte der Zyklop leise und starrte sie aus seinem einen Auge durchdringend an. »Sie selbst sind Inanna.«
    Sarah kam nicht dazu, über diese neue, über alle Maßen irrationale Enthüllung bestürzt oder auch nur verwundert zu sein, denn kaum hatte Polyphemos ausgesprochen, überschlugen sich die Ereignisse.
    Mit lautem Bersten brach der morsche Riegel, der die Hütte verschloss, und die Tür flog krachend auf. Mehrere Männer, die den roten Fes und die blaue Uniform der osmanischen Truppe trugen, stürmten herein, schussbereite Remington-Hinterlader im Anschlag.
    »Keine Bewegung!«
    Trotz der Warnung fuhr Sarah hoch, während Polyphemos und Hingis herumwirbelten. Die Hand des Zyklopen wollte unter seinen Umhang gleiten, wo er die Sichelklinge verbarg – der Anblick der Gewehrmündungen, die geradezu erpicht darauf schienen, bleiernes Verderben zu spucken, ließ ihn jedoch davon Abstand nehmen. Rasch wurde er entwaffnet, dann packte man die Gefährten und bugsierte sie aus der Hütte, auch Sarah, die man kurzerhand auf die Beine zog und die auf den ersten Schritten Mühe hatte, sich aufrecht zu halten.
    Draußen war es schneidend kalt. Dem Rauschen nach zu urteilen, befanden sie sich in der Nähe des Flusses. Offenbar hatte Polyphemos Sarah ein gutes Stück getragen, während sie ohne Bewusstsein gewesen war.
    Die Nacht war noch nicht hereingebrochen, dennoch dunkelte es bereits. Nur vereinzelt waren orangerote und violette Flecke am Himmel zu entdecken, der Rest war von dunklen Wolken übersät, die baldigen Regen verhießen. Dichter Baumbestand umgab die einfache Hirtenbehausung, die Sarah und ihren Gefährten als Zuflucht gedient hatte. Davor hatten zwei Dutzend türkische Soldaten Aufstellung genommen, alle zu Pferde. Der Anblick entmutigte Sarah. Gegen eine solche Übermacht hatten sie nicht die geringste Chance …
    Man wies sie an, sich vor der Hütte aufzustellen, und Sarah befürchtete schon, dass man an ihnen ein Exempel statuieren und sie standrechtlich erschießen würde. Aber dann traten die Soldaten zurück und machten für ihren Anführer Platz, einen osmanischen Obristen, dessen blauer Uniformmantel nicht nur die üblichen Arabesken aufwies, sondern darüber hinaus auch mit goldfarbenen Epauletten versehen war.
    »Tally-ho! Da haben wir den Fuchs also endlich gefangen …«
    Sarah stutzte, als sie die Stimme hörte, die nicht etwa türkisch, sondern in akzentfreiem Englisch sprach und ihr nur zu vertraut vorkam. Ungläubig blickte sie auf und erkannte hinter dem angeklebten Bart und der falschen Gesichtsfarbe tatsächlich altbekannte Züge …
    »Cranston«, zischte sie.
    »Sehr gut.« Der Doktor nickte.

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