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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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gewesen war und kaum mehr hoffen durfte, die Gestade der Heimat noch einmal zu sehen, kehrte Kamal Ben Nara zurück.
    Einen tiefen Atemzug nehmend, schlug er die Augen auf – und blickte in Ludmilla von Czernys anmutige Züge. Ihr Lächeln schien alles Glück, ihre Tränen alle Freude und ihre Schönheit alle Verlockungen dieser Welt zu verheißen.
    »Willkommen zurück, Geliebter«, hauchte sie.
    »Wir sind da.«
    Es war am Abend des zweiten Tages, als Horace Cranston das erlösende Signal gab. Längst hatte Sarah erkannt, wohin die Reise führte, aber auf eine geradezu bestürzende Weise war es ihr gleichgültig geworden.
    Was spielte es noch für eine Rolle, wohin sie gebracht wurde? Alles, alles hatte sie verloren, sie sah keine Hoffnung mehr. Nur ihre Wut war ihr geblieben, haltloser Zorn, der sich in ihrem Unterleib ballte und den sie beinahe körperlich zu fühlen glaubte. Noch immer war ihr übel, aber sie nahm es kaum noch wahr. Das Wenige, das Cranstons Leute ihr in den vergangenen beiden Tagen zu essen gegeben hatten, in der Hauptsache altbackenes Weißbrot, hatte sie schon kurz darauf wieder von sich gegeben, zur Belustigung der Meute.
    Ihr war elend zumute, auf eine Art, wie sie es nie zuvor erlebt hatte. Die Trauer über Hingis’ Tod und der Verlust des Lebenswassers, das die letzte Hoffnung für Kamal bedeutet hatte, waren zu viel für sie gewesen. Zusammengesunken kauerte sie auf dem Rücken ihres Pferdes, und es war ihr egal, was mit ihr geschah.
    Am Fuße eines der gewaltigen Felsentürme, die sich über die Ebene erhoben, war die Kolonne zum Stehen gekommen. Hoch über ihnen, oberhalb der schwarzgrauen Felsen, die sich in den wolkenverhangenen, von glutroten Adern durchzogenen Himmel reckten, waren die trutzigen Umrisse einiger Türme auszumachen -eines jener Klöster, die ab dem 14. Jahrhundert in luftiger Höhe errichtet worden waren und denen die Menschen der Umgegend den Namen Metéora gegeben hatten.
    Schwebende Felsen …
    Insgesamt dreiundzwanzig dieser Klöster gab es, die von den kahlen Bergkuppen aus das Land überblickten. Um ungestört zu sein und sich mit ganzem Herzen der Kontemplation widmen zu können, hatten Mönche dieses freiwillige Exil gewählt, das sie dem Himmel näher sein zu lassen schien. Aber natürlich waren die Klöster von Meteora zu allen Zeiten auch ein ideales Versteck gewesen.
    Nachdem die Mönche ihre einsamen Domizile nach und nach verlassen hatten, waren sie zur Zuflucht von flüchtigen Verbrechern und Wegelagerern geworden, und während der Kämpfe um Thessalien hatten sie den griechischen Freiheitskämpfern als Basis gedient. Und auch die Bruderschaft des Einen Auges schien die Vorteile eines solch entlegenen und nahezu uneinnehmbaren Stützpunkts erkannt zu haben …
    »Sie sind beeindruckt«, stellte Cranston grinsend fest, der sein Pferd an ihre Seite gebracht hatte.
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Warten Sie es ab«, empfahl er ihr gönnerhaft. »Schon bald werden Sie sehr beeindruckt sein …«
    Er griff an das Holster an seinem Gürtel und öffnete es, zog die Armeepistole und gab einen Schuss in die Luft ab. Der Knall hallte peitschend über das Land und wurde von den umliegenden Felsentürmen zurückgeworfen. Schon kurz darauf konnte Sarah erkennen, wie sich hoch über ihren Köpfen unter dem weit vorspringenden Dach eines Eckturmes etwas löste und langsam herabgelassen wurde. Je näher es kam, desto deutlicher war zu erkennen, dass es sich um ein Netz handelte, das an einem armdicken Seil hing und das wohl die einzige Möglichkeit darstellte, auf halbwegs bequemem Wege hinaufzugelangen.
    »Ein Aufzug«, erklärte Cranston überflüssigerweise. »Höchst primitiv, aber sehr nützlich.«
    Eine Antwort blieb Sarah abermals schuldig. Ihr stand der Sinn nicht danach, die Sehenswürdigkeiten des Landes zu bestaunen. Ohne jede Regung wartete sie, bis sie vom Sattel losgebunden wurde, dann ließ sie sich seitlich vom Pferd gleiten. Ein Blick zu Polyphemos verriet ihr, dass der Zyklop nicht weniger erschöpft war als sie; dennoch schien der Blick seines einen Auges ihr Mut und Zuversicht zusprechen zu wollen – Eigenschaften, die Sarah irgendwo auf dem langen Ritt verloren hatte …
    Das Netz erreichte den Boden. Zwei von Cranstons Leuten nahmen es vom Haken ab und öffneten es, sodass man in das tropfenförmige Gebilde einsteigen konnte. Cranston war der Erste, gefolgt von Sarah, die man grob vorwärts stieß. Sie stolperte und wäre gefallen, hätte sie

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