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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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»Wie haben Sie mich trotz dieser Maskerade erkannt?«
    »Ihr fauliger Gestank hat Sie verraten.«
    »Charmant.« Er schnitt eine Grimasse.
    »Warum sind Sie hier?«, erkundigte sich Hingis aufgebracht. »Was haben Sie hier zu schaffen? Warum kümmern Sie sich nicht um Ihren Patienten, anstatt albernen Mummenschanz zu treiben?«
    »Dieser Mummenschanz, wie Sie es nennen, kann in diesen unruhigen Tagen den Unterschied zwischen einem toten und einem lebenden Ausländer bedeuten«, erwiderte Cranston ungerührt. »Und was meinen Patienten betrifft – ihn kann ohnehin nur noch eines retten. Nicht wahr, Lady Kincaid?«
    Sarahs Brust hob und senkte sich unter wütenden Atemzügen, aber sie erwiderte nichts.
    »Nun kommen Sie schon, ich weiß, dass Sie das Wasser des Lebens gefunden haben. Oder wie wäre es sonst zu erklären, dass wir den Eingang verschlossen und den Schacht verschüttet vorgefunden haben?«
    »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, behauptete Sarah.
    »Leugnen Sie es nicht. Ich weiß, dass Sie in der alten Kirche gewesen sind. Ihr ach so tapferer Führer hat es mir gesagt.«
    »Perikles?« Sie horchte auf.
    »Zuerst wollte er nicht reden, aber dann ist es munter aus ihm herausgesprudelt – leider zu spät. Er war nicht mehr zu retten.«
    »Lügner«, begehrte Sarah auf. »Sie haben ihn erschossen!«
    »In seinem Zustand war es das Einzige, was ich noch für ihn tun konnte«, erklärte Cranston mit grausamem Lächeln. »Bedauerlicherweise währte seine Sturheit zu lange, als dass wir Ihren feigen Anschlag noch hätten verhindern können.«
    »So ist das Leben«, stellte Hingis gleichmütig fest. »Wie gewonnen, so zerronnen.«
    »Nicht ganz. Die Gräfin wird nicht begeistert darüber sein, dass die Quelle des Lebens zerstört wurde. Aber immerhin haben wir ja noch die Probe, die Lady Kincaid entnommen hat, anhand derer wir eine chemische Analyse …«
    »Sie irren sich«, sagte Sarah schnell.
    »Inwiefern?«
    »Es gibt keine Probe.«
    »Sie wollen mir weismachen, Sie hätten das Elixier des Lebens nicht beschafft? Nachdem Sie eine so weite und gefahrvolle Reise auf sich genommen haben? Nachdem Sie so kurz davor standen, Ihren geliebten Kamal zu retten?«
    »Da war kein Elixier«, behauptete Sarah, »und der Einsturz des Stollens ist nichts als ein Unfall gewesen.«
    »Eine hübsche Geschichte.« Cranston nickte. »Und nun die Wahrheit: Sie sind in den Schacht gestiegen und haben das Wasser des Lebens besorgt. Anschließend haben Sie zusammen mit Ihren Kumpanen den Einstieg unzugänglich gemacht.«
    »Sie phantasieren«, sagte Sarah nur.
    »Vielleicht.« Er nickte. »Vielleicht aber auch nicht.«
    Er wies zwei seiner Leute an, in die Hütte zu gehen und sie zu durchsuchen. Kurz darauf kehrten die beiden zurück, Sarahs Feldflasche in den Händen, die der Arzt grinsend entgegennahm.
    »Sieh an«, meinte er. »Sollte es das sein, was wir suchen?«
    »Nein«, widersprach Sarah, ohne mit der Wimper zu zucken. »Das ist nur gewöhnliches Quellwasser.«
    »Ach ja?« Cranston grinste. »Dann wird es Ihnen sicher nichts ausmachen, wenn ich die Flasche vor Ihren Augen ausleere?«
    »Warum sollte es?« Sarah verzog keine Miene, obwohl sie am liebsten laut geschrien hätte. Genau das war eingetreten, wovor sie sich die ganze Zeit über gefürchtet hatte: Sie musste Leben gegen Leben abwägen.
    Was wog schwerer?
    Das Wohl des Mannes, den sie über alles liebte und um den zu retten sie all dies auf sich genommen hatte? Oder das all jener unschuldigen Menschen, die zu Schaden kommen mochten, wenn der Orden seine wahnwitzigen Pläne verwirklichte?
    Sarah musste entscheiden, und sie hasste sich dafür. Sie wollte Kamal nicht verlieren, aber sie wusste, dass er als stolzer Sohn der Tuareg niemals gewollt hätte, dass sein Leben mit dem Blut anderer erkauft wurde. Selbst wenn sich Sarah dazu hätte entscheiden können – Kamal hätte es ihr nie verziehen …
    Gebannt schaute sie zu, wie Cranston den Schraubverschluss öffnete und die Flasche langsam umdrehte. Jeden Augenblick würde sich der kostbare Inhalt aus dem Flaschenhals ergießen und im Morast versickern – dass er es nicht tat, lag an Polyphemos, der einen heiseren Schrei ausstieß.
    »Nein!«, gebot er mit lauter Stimme, worüber Sarah gleichermaßen erleichtert wie entsetzt war. »Tun Sie das nicht!«
    »Sieh an.« Mit breitem Grinsen schraubte Cranston die Flasche wieder zu. »Der Verräter zeigt sich reumütig.«
    »Keineswegs«, versicherte der Zyklop.

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