Am Ufer Des Styx
»Aber das Wasser hat seine Wirkung noch nicht getan. Noch ist die Prophezeiung nicht erfüllt.«
»Ich glaube nicht an derlei Hokuspokus«, stellte Cranston klar. »Meine Aufgabe ist es, das Zeug sicher zur Gräfin von Czerny zu bringen, nicht mehr und nicht weniger.«
»Das verstößt gegen die Abmachung«, sagte Sarah. »Ich sollte das Elixier persönlich nach Saloniki bringen.«
»Die Abmachung wurde geändert«, erklärte der Arzt, »und daran tragen Sie selbst Schuld. Sie hätten die Quelle des Lebens nicht zerstören sollen.«
»Als ob das etwas geändert hätte«, stichelte Hingis. »Ihre Anwesenheit und dieser lächerliche Aufzug sind doch Beweis genug dafür, dass Sie sich nicht an die Vereinbarung gehalten haben.«
»Genau wie Sie«, beschied Cranston ihm lächelnd. »Es herrscht also Gleichstand.« Er winkte einen seiner Leute heran, der die Flasche entgegennahm und sie zum Schutz in einen metallenen Köcher gab, den er an einem Riemen über der Schulter trug. Daraufhin schwang sich der Mann in den Sattel und gab seinem Pferd die Sporen, das sich wiehernd aufbäumte und auf donnernden Hufen davonjagte.
»Wohin reitet er?«, wollte Sarah wissen, die nicht nur den Reiter im Dunkel der Nacht entschwinden sah, sondern mit ihm auch alle Hoffnung für Kamal.
»Das werden Sie noch früh genug erfahren«, gab Cranston barsch zur Antwort. Dann wies er seine Leute an, Sarah und ihre Begleiter an den Handgelenken zu fesseln. Als Polyphemos wütend schnaubte und Widerstand zu leisten drohte, rissen die Soldaten ihre Gewehre in den Anschlag und wollten feuern.
»Nicht, Polyphemos!«, rief Sarah ihn zurück.
»Aber ich habe geschworen, Sie zu beschützen …«
»Sie beschützen mich nicht, indem Sie sich opfern. Wenn Sie mir helfen wollen, dann bleiben Sie am Leben, haben Sie verstanden?«
Der Einäugige schien einen Moment unentschlossen. Dann nickte er und ließ die Hände sinken, um sich die Fesseln anlegen zu lassen.
Die Soldaten verloren keine Zeit und rüsteten zum Aufbruch. Während Sarah auf ein Pferd gesetzt und an Sattelknauf und Steigbügel gebunden wurde, damit sie nicht fliehen konnte, mussten Hingis und Polyphemos zu Fuß gehen. An langen, um ihre Handgelenke gebundenen Stricken würden zwei der Soldaten sie hinter sich herziehen.
Vergeblich setzte sich Sarah für ihre Freunde ein. Cranston lachte nur und murmelte etwas von Verrat und Bestrafung, ehe er selbst in den Sattel stieg und den Befehl zum Aufbruch gab.
10.
R EISETAGEBUCH S ARAH K INCAID
N ACHTRAG
Wieder wurden wir gefangen. Diesmal jedoch befinden wir uns nicht in der Gewalt der Türken, sondern in der meiner alten Feinde, die ich einmal mehr unterschätzt habe. Der Arm der Bruderschaft reicht weiter, als ich je vermutet hätte, selbst das osmanische Militär kann sich ihrem Einfluss nicht entziehen. Den Soldaten, die uns bewachen, scheint es einerlei zu sein, in wessen Diensten sie stehen, solange der Sold stimmt. Und Geld wiederum scheint nicht das Problem der Bruderschaft zu sein …
Die ganze Nacht hindurch sind wir geritten. Mehrmals bin ich dabei eingeschlafen, und hätten die Fesseln mich nicht daran gehindert, wäre ich wohl aus dem Sattel gefallen. Die Schläfen schmerzen noch immer, auch die Übelkeit hat sich noch nicht gelegt, aber ich will mich nicht beklagen, denn im Vergleich zu dem Schicksal, das meine Gefährten ereilt hat, scheint mir dies ein mildes Los zu sein.
Einige Stunden lang ist Friedrich Hingis tapfer marschiert, dann brach er zum ersten Mal entkräftet zusammen. Indem sie ihn mit der flachen Säbelklinge schlugen, trieben Cranstons Schergen ihn weiter und weiter, meinen empörten Protesten zum Trotz – bis er schließlich bewusstlos niedersank. Cranston untersuchte ihn und befahl, sehr zur Erheiterung der Männer, ihn quer über den Rücken eines der Packpferde zu legen, wie einen Teppich, den man zum Basar befördert.
Polyphemos hat seinen Feinden diesen Triumph nicht gegönnt. Aus unerklärlicher innerer Kraft schöpfend, hat er die Strapaze tapfer ertragen, auch dann, als der Pfad in steilen Windungen über die südlichen Ausläufer des Tomaros führte.
Die Berge haben wir inzwischen hinter uns gelassen und den Luros überwunden, und ich frage mich, wohin die Reise uns führen wird. Zu Beginn hatte ich angenommen, dass man uns den türkischen Behörden überantworten würde, die uns nach dem Massaker im Wald mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Tod, ganz sicher aber zu lebenslanger Kerkerhaft
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