Am Ufer Des Styx
Wassers auf und stemmte sich gegen die Strömung.
Endlich hatte Sarahs Pferd das gegenüberliegende Ufer erreicht, und sie blickte sich suchend nach Hingis um. Sie entdeckte den Freund mitten im Fluss, noch immer ohne Besinnung und quer über dem Rücken des Packpferdes hängend. Die Soldaten, die das Tier durch den Fluss trieben, sorgten dafür, dass Hingis sowohl mit dem Kopf als auch mit den Füßen ins eisige Wasser tauchte. Prompt erwachte er und verfiel in heiseres Geschrei und wildes Gestrampel, was die Männer an beiden Ufern mit dröhnendem Gelächter quittierten.
»Wollt ihr wohl damit aufhören, ihr groben Kerle?«, ergriff Sarah für den Freund Partei, der weiter hilflos um sich schlug.
Die Soldaten jedoch lachten nur noch lauter – auch dann noch, als Hingis vom Pferd rutschte und im nächsten Moment kopfüber in den Fluss stürzte. Sofort erfasste ihn die Strömung und riss ihn davon.
»Hilfe!«, brüllte der Schweizer aus Leibeskräften. »Ich ertrinke …!« Die letzten beiden Silben gingen in ein panisches Gurgeln über, als er untertauchte.
»Cranston!«, rief Sarah aufgebracht. »Worauf warten Sie? Holen Sie ihn gefälligst da raus, er kann nicht schwimmen!«
»Pech für ihn«, entgegnete Cranston kaltschnäuzig, während der jammernde Hingis weiter abgetrieben wurde, dabei in heller Todesangst schreiend und hilflos mit den Armen rudernd.
Vergeblich versuchte Sarah, die frisch geknüpften Knoten um ihre Handgelenke aus eigener Kraft zu lösen. Das Ergebnis war, dass die Stricke nur noch tiefer in ihre Gelenke schnitten. »Verdammt, unternehmen Sie doch etwas«, verlangte sie aufgebracht. »Er wird ertrinken …«
»Sieht ganz so aus«, pflichtete Cranston grinsend bei. Noch einige quälende Augenblicke, in denen das Schreien und Gurgeln Friedrich Hingis’ heiser zu ihnen herüberdrang, wartete er ab. Erst dann gab er seinen Leuten die Anweisung, sich ein Seil zu greifen und den jammernden Gelehrten aus dem Fluss zu ziehen.
Sarah atmete auf und wollte Hingis zurufen, dass Hilfe unterwegs sei – aber sie konnte den Gefährten nirgends mehr entdecken! Noch vor wenigen Augenblicken war sein durchnässter Schopf deutlich auszumachen gewesen, nun jedoch war er verschwunden. Und was noch schlimmer war: Hingis’ Geschrei war jäh verstummt.
»Nein«, flüsterte Sarah flehentlich und brachte ihr Tier durch Schenkeldruck dazu, sich herumzudrehen. Aber wohin sie auch blickte, nirgendwo war eine Spur von Friedrich Hingis zu entdecken. Vergeblich hielt Sarah nach aufsteigenden Luftblasen oder anderen Lebenszeichen Ausschau – die Einsicht war so schlicht wie schockierend. Die Strömung hatte Hingis erfasst und fortgerissen.
Er war ertrunken …
»Aufsitzen«, ordnete Cranston an. »Wir reiten weiter.«
»Sie wollen weiter reiten?«, fragte Sarah. »Und noch nicht einmal nach ihm suchen?«
»Wozu?« Cranston zuckte mit den Achseln. »Wenn er es bis jetzt noch nicht geschafft hat, wieder an die Oberfläche zu gelangen, dann ist er tot. Und ich werde seinen Leichnam gewiss nicht aus dem Fluss fischen lassen, um ihn anschließend in der Erde zu verscharren. Für derlei Unfug haben wir keine Zeit.«
»Unfug?«, fragte Sarah. »Sie bezeichnen das Begräbnis eines Menschen, den Sie selbst in den Tod getrieben haben, als Unfug?«
»Wenn man es zu etwas bringen will, muss man Prioritäten setzen, Lady Kincaid. Die Gräfin von Czerny erwartet uns so bald wie möglich.«
»Und Sie tun alles, was die Gräfin Ihnen sagt, nicht wahr?«, zischte Sarah aufgebracht, die ihre Bestürzung und die Trauer über Friedrich Hingis’ ebenso plötzlichen wie sinnlosen Tod mit einem Wutausbruch zu übertünchen versuchte. »Wie ein braves Schoßhündchen.«
»Durchaus nicht«, verneinte der Arzt kopfschüttelnd. »Aber ich habe etwas begriffen, das Ihnen trotz Ihres vielgerühmten Scharfsinns noch immer nicht bewusst geworden zu sein scheint.«
»Und das wäre?«, fragte sie schnaubend.
»Dass diese Leute sehr viel größere Macht besitzen, als wir uns vorstellen können. Schon sehr bald, Sarah, werden sie die ganze Erde beherrschen – und mit den zukünftigen Herren der Welt lässt sich nicht feilschen.«
Damit riss er sein Pferd herum und gab ihm die Sporen.
Sarah blieb schweigend zurück. Sie war dankbar dafür, dass in diesem Augenblick Regen einsetzte und die Tropfen in ihrem Gesicht die bitteren Tränen übertünchten, die ihr in gezackten Rinnsalen über die Wangen liefen.
11.
R EISETAGEBUCH S ARAH K
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