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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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– hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst, nichts davon war geblieben. Bis auf das Tagebuch, das sie an ihrem Herzen trug und das ihr das beruhigende Gefühl gab, dass all dies wirklich geschehen war und sie bis zuletzt gekämpft hatte. Auch wenn sie am Ende besiegt worden war …
    Geräuschvoll wurde der Riegel zurückgezogen und die Tür geöffnet. Grelles Licht flutete in die Kapelle und blendete Sarah. Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Dann sah sie, dass ihre Erzfeindin es sich nicht hatte nehmen lassen, sie persönlich abzuholen.
    »Komm«, sagte sie nur.
    »Es ist also so weit?«
    Die Gräfin nickte.
    »Was für ein Triumph dies für Sie sein muss«, sagte Sarah bitter.
    »Glaub mir«, lautete die gleichgültige Antwort, »ich würde dich lieber am Leben lassen, denn nach allem, was ich dir angetan habe, wäre das Leben für dich die größere Strafe als der Tod. Aber ich habe strikte Anweisungen …«
    »Bemühen Sie sich nicht«, sagte Sarah eisig und verließ ihr Gefängnis, ohne die Gräfin eines weiteren Blickes zu würdigen. Draußen warteten vier Bewaffnete, die sie in ihre Mitte nahmen.
    Durch den Innenhof und am Refektorium vorbei ging es durch einen kurzen Säulengang, der in den zweiten, noch größeren Hof der Anlage führte. Zur Linken befanden sich das katholikón und der lange Gebäudekomplex mit den Unterkünften. Auf der anderen Seite fiel das Gelände ein wenig ab und wurde von zwei Mauerringen begrenzt, ehe es steil, fast senkrecht in die Tiefe ging.
    Dorthin wurde Sarah geführt.
    Bei ihrem Gang über den Hof fiel ihr auf, dass einige Dinge anders waren als am Tag ihrer Ankunft. Kisten und Packsäcke standen überall herum, schwarz gekleidete Diener der Bruderschaft huschten in geschäftiger Betriebsamkeit umher. Befehle wurden gerufen, und vom östlichen Ende der Felsplattform her war das Knarren der Seilwinde zu hören, die Menschen und Material zu Tal beförderte.
    Offenbar hatten die Gräfin und ihre Schergen vor, ihren Schlupfwinkel zu verlassen – gleich nachdem sie sich ihrer hartnäckigsten Gegnerin entledigt hatten …
    Vom inneren Mauerring führte eine steinerne Treppe in den äußeren Hof, dessen felsiges, nur von vereinzelten Büschen bewachsenes Terrain nach Süden hin steil abfiel. Der äußere Mauerring war nur etwa hüfthoch und die letzte Barriere vor dem gähnenden Abgrund. Dahinter erstreckte sich die Weite der thessalischen Ebene, von Dunst bedeckt und unter einem orangefarbenen, wolkenverhangenen Himmel liegend, der Schnee und Regen verhieß.
    Sarah hatte sich stets gefragt, wie sich jemand fühlen musste, der im Morgengrauen zum Platz seiner Hinrichtung geführt wurde – jetzt wusste sie es.
    An der Mauer wurden sie erwartet.
    Cranston stand dort, mit ausdrucksloser Miene, umrahmt von vier weiteren Wächtern, die ihre Remington-Gewehre über der Schulter trugen. Ihre schwarzen Turbane hatten sie so um die Köpfe geschlungen, dass nur die Augenpartie frei blieb.
    Henkersknechte, dachte Sarah unwillkürlich.
    »Lady Kincaid.« Cranston nickte ihr zu. Jener Tag in London, an dem er ihr vorgestellt worden war, schien undenklich lange zurückzuliegen. Aber bereits damals, in jenem ersten, instinktiven Augenblick, hatte Sarah sein falsches Wesen durchschaut.
    Sie verzichtete darauf, den Gruß zu erwidern. Stattdessen wandte sie sich Ludmilla von Czerny zu. »Hier also?«, fragte sie nur.
    »In der Tat.«
    Sarah nickte.
    »Bist du verwundert?«
    »Kaum«, verneinte Sarah. »Euer Plan ist aufgegangen, ihr habt alles bekommen, was ihr wolltet. Was euch noch fehlt zum absoluten Triumph ist meine Vernichtung.«
    »In der Tat – aber dazu hätte es nicht zu kommen brauchen. Du wusstest von Beginn an, dass wir dich zu manipulieren versuchten. Hättest du kooperiert, statt dich zu widersetzen, stünden wir jetzt nicht hier. Du jedoch hast es vorgezogen, dich selbst zu betrügen, indem du dir und anderen vorgegaukelt hast, du könntest es mit der Macht des Einen Auges aufnehmen. Dabei hattest du zu keinem Zeitpunkt eine andere Wahl.«
    »Was wollen Sie damit sagen?«
    Die Gräfin lachte überlegen. »Wie es heißt, kehren jene, die einmal von der Quelle des Lebens gekostet haben, immer wieder dorthin zurück – wir wussten also, dass du uns früher oder später den Weg dorthin weisen würdest.«
    »Sie lügen«, meinte Sarah überzeugt, »wie in so vielen Dingen.«
    »Glaubst du?«
    »Wenn ich als Kind tatsächlich von dem Fieber

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