Am Ufer Des Styx
dessen bauschende Form und großer Kragen fast königlich anmuteten. Dies und die Tatsache, dass die Frau auffälligen Goldschmuck trug, deuteten darauf hin, dass sie dieser Begegnung größere Bedeutung beizumessen schien, als Sarah bis zu diesem Zeitpunkt klar gewesen war.
»Die Gräfin von Czerny«, erklärte Antonín überflüssigerweise, worauf sich Friedrich Hingis tief verbeugte und Sarah, in Anerkennung des höheren und älteren Adelstitels der Gräfin, den Kopf senkte und einen Knicks andeutete.
»Lady Kincaid.« Lächelnd kam die Gräfin auf sie zu, die Hände ausgestreckt, um sie zu begrüßen. In England galt eine solche Geste als Zeichen großer Vertrautheit, was sie an diesem Ort bedeutete, wusste Sarah nicht zu sagen, aber sie war erleichtert darüber, dass ihre Gastgeberin der Etikette offenbar ähnlich geringe Bedeutung beizumessen schien wie sie selbst. »Es ist mir eine Freude, Sie in meinem Haus zu begrüßen.«
Die Gräfin hatte deutsch gesprochen, mit deutlichem slawischen Akzent. Da Sarah der tschechischen Sprache nicht mächtig war, schien die deutsche das Mittel der gemeinsamen Verständigung zu sein.
»Ich danke Ihnen, Gräfin«, erwiderte sie deshalb auf Deutsch, während sie einander bei den Händen fassten und sich tief in die Augen blickten. Einmal mehr hatte Sarah dabei das Gefühl, etwas Altvertrautes darin zu erkennen, obwohl sie sicher war, der Gräfin nie zuvor begegnet zu sein. War es das, was Hingis gemeint hatte, als er von Ähnlichkeit gesprochen hatte …? »Obgleich ich nicht weiß, womit ich die unerwartete Ehre verdient habe, als Gast in Ihrem Haus aufgenommen zu werden«, fügte Sarah höflich hinzu.
»Sie sind zu bescheiden«, erwiderte die Gräfin lächelnd. »Ihr Ruf ist Ihnen vorausgeeilt, meine Liebe – und das nicht erst, seit unser Schweizer Freund« – sie begrüßte Hingis mit einem freundlichen Nicken, worauf sich dieser abermals verbeugte – »in Ihrem Namen bei mir vorgesprochen hat. Mein verstorbener Gatte hat die Arbeiten Ihres Vaters mit großem Interesse verfolgt. Und wie ich gehört habe, wandeln Sie auf seinen Spuren.«
»Gewissermaßen«, bestätigte Sarah. »Wenn auch nicht so freiwillig, wie ich es gerne möchte.«
»Ich habe von dieser schrecklichen Sache gehört«, erwiderte die Gräfin, »und ich versichere Ihnen, dass ich alles unternehmen werde, um Ihrem Aufenthalt in Prag zum Erfolg zu verhelfen.«
»Ich danke Ihnen, Gräfin. Sie sind zu freundlich.«
»Aber nicht doch. Ich weiß nicht, wie Sie es sehen – aber als Herr Hingis mir Ihre Zwangslage beschrieb, da stand mein Entschluss, Ihnen zu helfen, bereits fest, denn gewissermaßen sind wir Schwestern.«
»Schwestern?«
»Als Töchter derselben Väter, die da heißen Wissbegier und Trauer«, erläuterte die Gräfin. »Wie Sie habe auch ich einen geliebten Menschen verloren, der mir mehr als alles andere bedeutet und mir im Grunde nur zwei Dinge hinterlassen hat, nämlich seine Leidenschaft für die Vergangenheit und das Handwerkszeug, sich damit zu befassen. Sehen Sie sich um! Die Fluchten und Säle dieses Palais sind angefüllt mit den Relikten der Geschichte, die mein Mann gesammelt hat. Als er von mir ging, konnte ich nicht anders, als in seinem Sinne seine Arbeit fortzuführen und mich dem Studium der Vergangenheit zu widmen.«
»Sie … sind Archäologin?«, erkundigte sich Sarah zweifelnd.
»Meine Liebe! Wie gerne würde ich diese Frage bejahen, doch anders als Ihnen war es mir nicht vergönnt, die Grenzen meiner Herkunft hinter mir zu lassen und ferne Länder zu bereisen in Begleitung eines Mannes, der mir zugleich Vater und Lehrer gewesen wäre. So blieb mir leider nur das Studium der Bücher. Aber auch in ihnen habe ich Trost und Hoffnung gefunden, wenn Sie verstehen.«
»Ich denke doch.« Sarah nickte.
»Die Familie Czerny«, erläuterte die Gräfin ungefragt, »gehört zu den ältesten und traditionsreichsten Adelsgeschlechtern Prags. Meine Vorväter waren dabei, als im Jahr 1257 das Stadtrecht verliehen wurde; sie waren zugegen, als die Universität gegründet wurde und der Kaiser auf dem Hradschin Einzug hielt; sie waren dabei, als Jan Hus als Ketzer verbrannt wurde, und mussten mit ansehen, wie seine Anhänger das Reich in einen blutigen Krieg stürzten; sie erlebten die segensreiche Regierungszeit Rudolfs II. und sahen die Freiheit Böhmens in der Schlacht am Weißen Berge untergehen, fochten gegen Sachsen und Franzosen. Doch all dies scheint unerheblich, seit
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