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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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abgestiegen war und ihr beim Verlassen des Gefährts behilflich sein konnte. Erst dann blickte sie an dem imposanten Stadthaus empor, dessen Fassade überzuquellen schien vor barockem Gepränge und dessen ebenso schmale wie hohe Fenster mit Vorhängen verdunkelt waren. Über dem breiten Portal war ein Wappen angebracht, das einen mittelalterlichen Kämpen zeigte, hoch zu Ross und in schwarzer Rüstung.
    »Ich bin beeindruckt«, kam Sarah nicht umhin zuzugeben.
    »Warten Sie, bis Sie es von innen sehen«, entgegnete Hingis lächelnd. »Die Familie Czerny ist für ihre private Kunstsammlung weithin berühmt.«
    Noch ehe Sarah etwas erwidern konnte, wurde die eine Hälfte der hohen Eingangstür geöffnet, und ein schlanker Mann trat daraus hervor, dessen Erscheinung im besten Sinn als altmodisch zu bezeichnen war. Sein Haar war streng zurückgekämmt und im Nacken zu einem kleinen Zopf gebunden, bekleidet war er mit einer dunkelgrünen Livree und Kniebundhosen nach böhmischer Tracht. Die Gräfin Czerny, dachte Sarah, schien Wert auf Traditionen zu legen …
    »Guten Abend«, sagte der Diener in gutem Englisch, das nur einen leichten slawischen Akzent aufwies. »Willkommen in Prag, Lady Kincaid. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise?«
    »Danke«, erwiderte Sarah und deutete ein Nicken an – sie war mit den kontinentalen Gebräuchen nicht vertraut, aber kein englischer Diener – selbst wenn es sich um den Steward selbst handelte – hätte erwartet, eine ausführlichere Antwort zu bekommen.
    »Mein Name ist Antonín«, stellte sich der Livrierte vor. »Wenn Sie mir bitte ins Haus folgen möchten. Die Gräfin erwartet Sie bereits.«
    »Natürlich«, erwiderte Sarah, die nicht unhöflich erscheinen wollte, sich jedoch mit einem Blick die Straße hinab nach dem Verbleib des Lazarettwagens erkundigte.
    »Ich versichere Ihnen, dass wir uns um Ihr Reisegepäck kümmern werden«, versprach der Diener und gab damit zu verstehen, dass er über die Natur von Sarahs Reise offenbar nicht näher informiert war. Diskretion schien eine weitere Eigenschaft der Gräfin zu sein.
    Sarah schickte Hingis einen fragenden Blick, erntete ein ermunterndes Lächeln und beschloss, der Einladung zu folgen. Über die steilen Stufen des Eingangsportals ging es durch die hohe Pforte in den hell erleuchteten Empfangssaal, von dessen Decke ein glitzernder Kristalllüster hing. Anders als die gotisch anmutenden Hallen Kincaid Manors, die Sarah zwar vertraut waren, auf den unvorbereiteten Besucher jedoch dunkel und düster wirken mussten, waren die Wände in blendendes Weiß getaucht und die Decke mit prunkvollem Stuck überzogen. Goldumrahmte Gemälde zierten den Saal, die in dunklen, schweren Farben gehalten waren und Szenen der Prager Stadtgeschichte zeigten.
    Zwei Hausmädchen eilten herbei, um Sarah und Hingis beim Ablegen ihrer Hüte und Mäntel zur Hand zu gehen. Sodann wurden sie von Antonín über eine ebenso breite wie steile Treppe in den ersten Stock geleitet. Ein kurzer Gang führte in ein geräumiges Empfangszimmer, dessen schiere Größe und barocker Prunk Sarah abermals tief beeindruckten. Gaslüster sorgten für helles Licht, der strenge Geruch von Bohnerwachs erfüllte die Luft.
    Die hohen Fenster waren mit dunklem Samt verhüllt; die Stirnseiten des Saals waren mit riesigen Tapisserien behangen, die Szenen einer Schlacht aus dem Dreißigjährigen Krieg zeigten. Rosetten aus Stuck verschönten die Decke, das Parkett war makellos poliert. Ein länglicher Tisch mit samtbezogenen Stühlen sowie ein eiserner Ofen, der wohlige Wärme verströmte, bildeten die einzige Einrichtung. Davor stand eine Frau, die etwa in Sarahs Alter sein mochte und die ihr auf eigenartige Weise zugleich fremd und vertraut erschien.
    Ihre schlanke, aufrechte Gestalt und ihre stolze Haltung verrieten den Adel ebenso wie ihre blassen, hochwangigen Züge. Das schmale, von rotblondem Haar umrahmte Gesicht war von extravaganter, unnahbar wirkender Schönheit. Dünne Lippen formten einen kleinen Mund, unter dem sich eine entschlossen wirkende Kinnpartie wölbte. Die Nase war schmal und vielleicht ein wenig zu lang, doch die in geheimnisvollem Smaragdgrün blitzenden Augen ließen diesen nur scheinbaren Makel verblassen. Anders als Sarah, die in ein schlichtes dunkles Gewand gekleidet war, wie es auf Reisen praktisch war, trug die Frau ein spitzenverziertes Seidenkleid, dessen helles Beige den Teint seiner Trägerin noch blasser und nobler erscheinen ließ und

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