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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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wäre. Mein Geliebter schwebte in Lebensgefahr, und es stand mir nicht zu, an mein eigenes Wohl zu denken und an Dinge, die mir angenehm waren. Dennoch konnte ich es kaum erwarten, unsere Gastgeberin kennen zu lernen …
    In dem leichten Einspänner ging es Richtung Stadt, deren hohe Kuppeln und mit unzähligen Erkern und Spitzen versehene Türme sich gegen den glutroten Horizont abzeichneten, begleitet von Myriaden dünner Rauchsäulen, die in den Abendhimmel stiegen und, sich lila und blau verfärbend, darin auflösten. Die Wolkendecke war aufgerissen, und es war, als wollte die Sonne die Neuankömmlinge mit ihren letzten Strahlen willkommen heißen. Sie tauchte die Dächer und Türme in jenes goldene Licht, das der Stadt an der Moldau ihren Beinamen gegeben hatte.
    Der Weg der Kutsche führte am Prager Königshof vorbei durch den angrenzenden Pulverturm, dessen gotischer Dekor in neuer Pracht erstrahlte, nachdem man ihn – wie Hingis erklärte – erst vor wenigen Jahren wieder angebracht hatte. Eine breite Prachtstraße schloss sich an, die sich hinter der Londoner Mall nicht zu verstecken brauchte: Große Stadthäuser und Paläste mit hohen Fenstern und reich verzierten, barocken Fassaden wechselten sich ab mit mittelalterlich anmutenden Fachwerkbauten, die von der langen und traditionsreichen Geschichte der Stadt kündeten. Schließlich endete die Straße und mündete auf einen weiten Platz, der von einem großen, rechteckigen Turm beherrscht wurde, an dessen Ecken vier weitere kleine Türme in den Himmel ragten. Fußgänger, Kutschen sowie eine von Pferden gezogene Bahn verkehrten auf dem Platz, dessen Betriebsamkeit Sarah erneut an die Hauptstadt des Empire erinnerte.
    »Der Altstädter Ring«, kommentierte Hingis, der sich tatsächlich gut auszukennen schien und bereitwillig den Fremdenführer spielte. »Das eindrucksvolle Bauwerk dort zur Rechten ist die Teynkirche, unter deren spitzen Türmen die sterblichen Überreste Tycho Brahes begraben liegen, des berühmten dänischen Astronomen. Und jener Turm dort, der den Platz weithin überschaut, ist der des Altstädter Rathauses.«
    »Und jenes eigentümliche Gebilde dort?«, erkundigte sich Sarah, als der Einspänner die Südseite des Gebäudes passierte, das sich in einer eigentümlichen Mischung aus gotischen und italienischen Ornamenten präsentierte.
    »Die Rathausuhr«, erklärte Hingis, auf die eigentümliche, aus mehreren exzentrischen Kreisen bestehende und mit goldenen Ziffern, Himmelskörpern und Tierkreiszeichen versehene Vorrichtung deutend. »Ein Uhrmacher namens Hanuš soll sie um 1490 gebaut haben, worauf ihm die Stadtherren das Augenlicht nahmen, um ihn daran zu hindern, dass er jemals wieder ein solches Meisterwerk baue.«
    »Wirklich?«, fragte Sarah und konnte sich eines Schauderns nicht enthalten, das freilich auch von dem kalten Wind rühren mochte, der um die Häuser strich. Abermals blickte sie an der eindrucksvollen Fassade empor – und erschrak, als sie ein Skelett erblickte, das auf der rechten Seite des riesigen Zifferblattes auf einem Vorsprung stand und das sich in diesem Moment bewegte!
    Mit der einen Knochenhand zog es an einem Seil, mit der anderen hob es das Stundenglas und drehte es um. Zu einer früheren Tageszeit würde das Schauspiel – das sich, seit der Uhrmacher Jan Táborsk den Mechanismus im Jahr 1572 erneuert hatte, zu jeder vollen Stunde vollzog – Sarah nur anerkennendes Staunen entlockt haben. In diesem Augenblick jedoch, beleuchtet vom letzten Licht des Tages und vom fahlen Schein der Gaslaternen, die entlang der Straße entzündet worden waren, und umwölkt vom Nebel, der vom nahen Fluss emporkroch, erschien es ihr wie ein finsteres, dunkles Omen.
    »Was haben Sie?«, erkundigte sich Hingis, während die Glocken im Turm zu schlagen begannen und ihr Klang von den umliegenden Kirchen beantwortet wurde, sodass er allseits wie ein Echo widerzuhallen schien. »Ist alles in Ordnung?«
    »Natürlich«, erwiderte Sarah und schauderte abermals. »Alles in Ordnung, werter Freund …«
    Der Einspänner ließ den Platz hinter sich und bog in die Karlsgasse ein: eine breite, von prunkvollen Wohn- und Geschäftshäusern gesäumte Straße, die, in Widerspruch zu ihrem bescheidenen Namen, die Hauptverkehrsader der Altstadt zu sein schien. Reiter, Kutschen und Fuhrwerke drängten sich auch um diese späte Stunde noch auf dem Pflaster, zahllose Passanten bevölkerten die Bürgersteige, Kälte und Nebel zum Trotz.
    »Jenes

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