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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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eindrucksvolle Gebäude«, erklärte Hingis und deutete nach der rechten Seite, wo sich inmitten einer imposanten romanischen Fassade eine Kirche erhob, »ist das Klementinum. Ursprünglich von Jesuiten gegründet, beherbergt es heute Teile der Prager Universität sowie deren umfassende Bibliothek. Ich darf behaupten, hier manche erleuchtende Stunde verbracht zu haben.«
    Trotz ihrer inneren Anspannung konnte sich Sarah ein Lächeln nicht verkneifen. Friedrich Hingis, den einst so spröden und auf seine Laufbahn bedachten Gelehrten, als Fremdenführer zu erleben, war nicht nur ungewohnt, sondern zeigte ihn von einer völlig neuen Seite. So schwärmerisch romantisch, mit einer unüberhörbaren Neigung zur Sentimentalität, hatte Sarah den Schweizer noch nie zuvor erlebt. Von Herzen wünschte sie, sie hätte seine Empfindung teilen können, doch stattdessen ertappte sie sich dabei, dass sie diese Stadt trotz ihres Prunks und ihrer großen Vergangenheit als bedrohlich empfand.
    Unwillkürlich schaute sie sich nach dem Lazarettwagen um. Im Gewirr, das auf der Karlsgasse herrschte, war der Zweispänner ein Stück zurückgefallen, doch Sarah konnte den hohen Kastenwagen deutlich erkennen. Halbwegs beruhigt wandte sie den Blick wieder nach vorn – um zu sehen, wie sich ein weiteres hohes Turmgebäude aus der hereinbrechenden Dunkelheit und dem dichter werdenden Nebel schälte. Eine riesige Toröffnung klaffte darin, die die Straße zu verschlingen schien wie das Maul eines gefräßigen Untiers; dahinter waren die geschwungenen, von Gaslaternen und steinernen Skulpturen gesäumten Formen einer Brücke im dräuenden Dunkel zu erkennen.
    »Die Karlsbrücke«, erklärte Hingis wiederum. »Im Jahr 1357 wurde der erste Grundstein gelegt, seither überspannt sie den Fluss auf einer Länge von etwas über 1700 Fuß. Bis spät in das vorige Jahrhundert hinein stellte die Karlsbrücke die einzige Möglichkeit dar, die Moldau zu überqueren, ohne die Dienste einer Fähre in Anspruch nehmen zu müssen. Wie es heißt, soll der Mörtel der Brücke aus einer geheimen Mixtur bestehen, zu deren Bestandteilen – man höre und staune – auch rohe Eier gehört haben sollen. Kaum zu glauben, nicht wahr …?«
    Sarah hörte schon längst nicht mehr zu.
    Als der Einspänner das Tor passierte und auf die Brücke hinausfuhr, die von den in Stein gehauenen Standbildern zahlreicher Heiliger gesäumt wurde, da hatte sie das Gefühl, die Pforte zu einem fremden Reich zu durchschreiten, zur Zukunft, die – wie Shakespeare es ausgedrückt hätte – wie ein fernes, unentdecktes Land vor ihr lag.
    Den Blick starr auf die andere Seite des Flusses gerichtet, wo schemenhaft die Silhouette der Prager Burg zu erkennen war und die Gebäude der Kleinseite an den Hängen des Hradschin emporzuwachsen schienen, fragte sich Sarah, was sie dort erwarten mochte – und für einen kurzen Augenblick überkamen sie Zweifel an ihrer Mission.
    Was, wenn Sir Jeffrey Recht gehabt hatte? Wenn ihre unsichtbaren Gegner ihr tatsächlich eine Falle gestellt hatten, in die sie nun blindlings lief? Hatte sie tatsächlich nur zu Kamals Wohl gehandelt? Oder waren es ihre eigene Neugier und ihre Eitelkeit, die sie an diesen Ort getrieben hatten?
    Die Zweifel währten gerade so lange, wie die Kutsche brauchte, um den Fluss zu überqueren. Als der Brückenturm der gegenüberliegenden Seite in Sicht kam und der Einspänner das Tor durchfuhr, gewann Sarahs Vernunft wieder Oberhand über ihre irrationalen Ängste, und schon wenig später fragte sie sich, was in sie gefahren sein mochte. Einige Augenblicke lang hatte sie das Gefühl gehabt, dass die Überquerung des Flusses alles veränderte – geradeso, als wären die Wasser, die träge und dunkel unter der Brücke rauschten, jene des sagenumwobenen Flusses Styx und als gäbe es keinen Weg zurück …
    Hingis blieb die düstere Stimmung, in die seine Freundin verfallen war, nicht verborgen. »Es ist nicht mehr weit«, versuchte er sie aufzuheitern, während die Kutsche abermals barocke Stadthäuser und mittelalterliche Bauten passierte, deren Fassaden mit alten Zunft- und Wappenzeichen versehen waren. Die von Gaslaternen gesäumte Straße stieg steil bergan, sodass der Einspänner seine Fahrt verlangsamte. Irgendwann wies Hingis den Kutscher an, nach links abzubiegen, um schon kurz darauf anhalten zu lassen.
    »Das Palais Czerny«, gab er nicht ohne Stolz bekannt, »das Ziel unserer Fahrt.«
    Sarah wartete, bis der Kutscher

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