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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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dichtes Geflecht verwinkelter Dächer, deren Erker und Gauben wie Eiterbeulen wirkten und von denen zahllose Kamine aufragten, schien das gesamte Viertel zu überziehen.
    Darunter, in den schmalen, oft nur wenige Fuß breiten Gassen, wetteiferten Not, Mangel und Elend miteinander.
    Trotz der niederen Temperaturen und obwohl es unablässig regnete, sah Sarah halbnackte Kinder, die auf dem schmutzigen Straßenpflaster kauerten und aus deren dunkel umrandeten Augen pure Hoffnungslosigkeit sprach. Blinde und Krüppel lungerten an den Ecken und bettelten um milde Gaben, während aus Fenstern, die anstelle von Glas nur mottenzerfressene Vorhänge hatten, verzagte Laute drangen.
    Es war fast unvorstellbar, dass es an einem Ort wie diesem so etwas wie ein alltägliches Leben geben mochte. Und dennoch gab es in den unteren Stockwerken der baufälligen Gebäude Gasthäuser, Läden und Handwerksstuben, boten Händler mit Handkarren Gemüse zum Kauf, dessen Geruch freilich erkennen ließ, dass hier nur das verschachert wurde, was andere weggeworfen hatten. Dazwischen drängten sich Menschen in meist schwarzer Kleidung, die Köpfe zwischen die Krägen ihrer schäbigen Mäntel und Jacken gezogen. Das Ausmaß von Schmutz und Unrat in den Gassen war überwältigend. Nicht selten konnte Sarah sehen, wie Eimer mit Exkrementen direkt auf die Straße geschüttet wurden. Trotz des strömenden Regens war der beißende Gestank, der wie eine Dunstglocke über dem Viertel hing, deutlich auszumachen. Wie sich ein heißer Sommertag hier auswirken würde, darüber wollte Sarah gar nicht nachdenken. Die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal und übertrafen gar noch jene im Londoner East End, was Sarah bis zu diesem Zeitpunkt schlechterdings für unmöglich gehalten hatte.
    »Die Gräfin hatte nur zu Recht«, stieß Hingis mit einer Mischung aus Betroffenheit und Missbilligung hervor. »Wir hätten nicht hierher kommen sollen. Eine Lady sollte nicht an einem Ort wie diesem verkehren.«
    »Niemand sollte an einem Ort wie diesem verkehren«, verbesserte Sarah und verließ für einen Augenblick den Schutz des Parapluies, um einige Geldstücke in den rostigen Becher zu werfen, den ein blinder Obdachloser mit zitternder Hand von sich streckte.
    »Das sollten Sie nicht tun, Lady Kincaid«, wies Cranston sie zurecht, als sie wieder unter den Regenschirm zurückkehrte. »Über kurz oder lang werden Sie von Bettlern umlagert sein.«
    »Wenn schon«, erwiderte Sarah. »Dieses Elend ist unerträglich.«
    »Und Sie glauben, etwas dagegen zu tun, indem Sie ein paar Pence verschenken?«, erkundigte sich der Doktor. »Oder geht es Ihnen nur darum, Ihr Gewissen zu beruhigen, damit Sie heute Nacht wieder beruhigt auf seidenen Kissen ruhen können?«
    »Sie sind abscheulich«, schnaubte Sarah – wobei ihre Wut allerdings mehr ihr selbst galt als dem Arzt. Insgeheim kam sie nicht umhin, sich einzugestehen, dass Cranstons Vorwurf berechtigt war.
    Längst hatte sie inmitten des Labyrinths aus engen Gassen und verwinkelten Häusern die Orientierung verloren, als sich unmittelbar vor ihnen die Konturen eines großen steinernen Gebäudes aus dem Regen schälten. Die Fassade war mit einfachen, senkrecht verlaufenden, frühgotischen Ornamenten versehen. Umlaufen wurde der schlichte Bau von einem geschlossenen Peristyl.
    »Die Altneusynagoge«, erklärte Gustav, während sie die Stufen zum Torbogen hinabstiegen und in die überdachte Eingangshalle traten, die nicht groß war, aber Schutz vor dem Regen bot. »Sie ist mehr als sechshundert Jahre alt.«
    »Ich weiß«, entgegnete Sarah, während ihre Begleiter die Regenschirme schlossen und abstellten. »Hier war es, wo Rabbi Löw einst lehrte, nicht wahr?«
    »Das stimmt.« Der Junge, der sich in der Geschichte des Viertels bestens auskannte, nickte eifrig. »Sein Grab befindet sich nicht weit von hier auf dem Friedhof. Sie können es besuchen, wenn Sie möchten.«
    »Später vielleicht«, erwiderte Sarah. Es machte ihr Freude zu sehen, wie der junge Mann in seiner Rolle als Fremdenführer aufging, und hätten sich die Dinge anders verhalten, hätte sie sich gerne mehr Sehenswürdigkeiten von ihm zeigen lassen. Für Muße war jedoch keine Zeit …
    »Genau fünf«, stellte Cranston mit Blick auf seine Taschenuhr fest. »Wir jedenfalls sind pünktlich.«
    »Seien Sie nicht allzu stolz auf Ihre britische Pünktlichkeit – die Zeit auf Erden gehört Gott allein.«
    Sarah und ihre Begleiter fuhren herum. Vor dem

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