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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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sprechen, und manch einer hat aus den Wirrungen ihrer Worte nicht mehr herausgefunden.«
    »Ich danke Ihnen für die Warnung, Gräfin«, erwiderte Sarah. »Aber glauben Sie mir, ich habe nichts zu verlieren.«
    »Da kann man nie sicher sein«, erwiderte die Gräfin rätselhaft. »Außerdem werden Sie einen ortskundigen Führer brauchen.«
    »Wissen Sie jemanden?«, erkundigte sich Hingis.
    »Ich denke, ja – einen jungen Mann, der wiederholt Übersetzungsdienste für mich vorgenommen hat. Er geht noch zur Schule, aber sein Interesse für die Geschichte und seine Kenntnis, das Judenviertel betreffend, sind außerordentlich. Darüber hinaus ist er absolut vertrauenswürdig. Ich werde Antonín nach ihm schicken.«
    »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Gräfin«, sagte Sarah. »Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
    »Sie brauchen mir nicht zu danken, Lady Kincaid. Ich betrachte es als meine persönliche Pflicht, Sie zu unterstützen. Gewissermaßen von Schwester zu Schwester …«

3.
    R EISETAGEBUCH S ARAH K INCAID
    Trotz der düsteren Warnungen, die sie am gestrigen Abend aussprach, hat Gräfin Czerny schon für heute Morgen ein Treffen mit dem von ihr empfohlenen Führer arrangiert. Dieser, ein junger Mann von vielleicht sechzehn Jahren, der auf den Namen Gustav hört und ein Prager Gymnasium besucht, scheint mir der ideale Begleiter zu sein, um sich im Labyrinth der Josephsstadt auf die Suche zu begeben. Nicht nur scheint er vertrauenswürdig und in der Sache kundig, sondern darüber hinaus auch für sein jugendliches Alter ungewöhnlich gelehrt und belesen. Und nicht nur, dass er unsere Sprache fließend beherrscht, er ist wie ich auch ein begeisterter Leser der Werke Dickens’ und spielt mit dem Gedanken, einige von ihnen ins Deutsche zu übertragen.
    Für den späten Nachmittag wurde ein Treffen mit Mordechai Oppenheim vereinbart, jenem Rabbiner, von dem ich in der Zeitung las und der so überaus überzeugt davon schien, dass der Golem zurückgekehrt wäre. Die Zeit bis dahin verbringe ich mit bangem Warten an Kamals Seite. Der Zustand meines Geliebten ist nach wie vor als stabil zu bezeichnen, auch wenn mir Dr. Cranstons wachsende Sorge nicht verborgen bleibt. Die Frage, wie lange Kamal den Strapazen des hohen Fiebers noch wird standhalten können, drängt sich immer mehr in den Vordergrund, und ich weiß, dass ich handeln muss.
    Hinzu kommt noch eine weitere Sorge, aufgrund der ich Friedrich Hingis gebeten habe, einige Erkundigungen für mich einzuholen, in der Hoffnung, dass sich mein Verdacht als gegenstandslos erweist.
    Der Worte der Gräfin eingedenk, werde ich meinen Revolver mitnehmen, um mich verteidigen zu können, falls es notwendig werden sollte. Ansonsten nehme ich nur das mit mir, was ich stets bei mir trage: Schreibzeug, ein Notizbuch, Streichhölzer sowie etwas Geld, um nötigenfalls verstockte Zungen zum Sprechen zu bringen …
    J OSEFOV , P RAG
N ACHMITTAG DES 10. O KTOBER 1884
    Es regnete in Strömen. War es den Sonnenstrahlen am Vorabend noch gelungen, vereinzelt durch das graue Wolkenband zu dringen, das sich über der Stadt zusammengezogen hatte – am darauf folgenden Tag hatten sie keine Chance mehr gegen die düster dräuende Übermacht, die sich in dichten Regenschauern entlud. Sturzbächen gleich, ergoss sich das Wasser über die Stadt, platschte auf die steilen Dächer und sammelte sich in den Kanälen und Gossen. Doch trotz des dichten grauen Schleiers, der sich über das jüdische Viertel gebreitet hatte, stellte Sarah zu ihrem Erschrecken fest, dass die Gräfin Czerny nicht übertrieben hatte. Wer die Judenstadt betrat, der hatte tatsächlich das Gefühl, in eine andere, schlechtere Welt zu gelangen.
    Die Droschke hatten Sarah und ihre Begleiter vor den Mauern des Viertels zurückgelassen, denn in der bedrückenden Enge wäre sie mehr hinderlich denn nützlich gewesen. Zwar gab es auch in der Josephsstadt beeindruckend große Bauten, die sich entlang der wenigen breiten Straßen erhoben – die ehemaligen Stadthäuser wohlhabender jüdischer Geschäftsleute ebenso wie das Rathaus sowie die Synagogen, die sich zwischen dem Friedhof im Westen und dem Moldaubogen im Norden erstreckten. Dazwischen jedoch drängten sich zahllose, teils Hunderte von Jahren alte Häuser, die vielfach ebenso elend und ärmlich aussahen wie die Gestalten, die darin wohnten. Nur die Tatsache, dass sie dicht aneinander gebaut waren, sodass eins das andere stützte, schien sie vor dem Einsturz zu bewahren. Ein

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