Am Ufer Des Styx
…«
»Was hatten Sie denn erwartet?«
»Um die Wahrheit zu sagen, weiß ich das auch nicht. Allerdings erschien mir die Vorstellung, dass eine junge Britin adeliger Herkunft ausgerechnet an diesen Ort kommen würde, so abwegig, dass ich nicht anders konnte, als diesem Treffen zuzustimmen. Gewissermaßen haben Sie es also meiner Neugier zu verdanken, dass Sie hier sind.«
»Ich bin Ihrer Neugier sehr dankbar«, versicherte Sarah lächelnd, der die schlichte Art und der hintergründige Humor des Rabbiners gefielen. »Und ich bin froh, dass Sie sich die Zeit für ein Gespräch genommen haben.«
»Wie Sie sich denken können, kommt es nicht oft vor, dass jemand von außerhalb uns hier besucht, und in Ihrem Fall erschien es mir gleich aus drei Gründen abwegig: Sie sind eine Frau, Sie sind von Adel – und nicht zu vergessen Christin, wenn ich nicht irre.«
»Sie irren nicht«, gab Sarah zu. »Aber mein Vater lehrte mich einst, dass die Menschen auf unterschiedliche Weise nach Gott suchen mögen, aber dass sie alle seine Kinder sind.«
»Ein weises Wort.« Der Rabbiner nickte. »Ihr Vater scheint ein kluger Mann zu sein.«
»Er war ein kluger Mann«, verbesserte Sarah.
»Verzeihen Sie.« Oppenheim blickte ihr prüfend ins Gesicht und schien den Schmerz darin zu erkennen. Rasch wechselte er deshalb das Thema. »Sie sind also des Golems wegen gekommen?«
»In der Tat.«
»Was wollen Sie darüber wissen?«
»Möglichst alles.«
»Dann werde ich Ihnen von den Ursprüngen der Sage erzählen. Von der Geschichte der Prager Juden, die so vieles erdulden mussten. Und von dem Diener aus Lehm, der ihnen geschickt wurde, um sie von einem schrecklichen Verdacht zu befreien …«
»Das alles weiß ich bereits, Rabbi Oppenheim«, wandte Sarah ein. »Sie müssen wissen, dass ich mich nicht unvorbereitet auf diese Reise begeben habe. Ich habe recherchiert und eine ganze Reihe von Informationen über den Golem und seine Herkunft gefunden.«
»Umso mehr wundert es mich, dass Sie die weite Reise auf sich genommen haben«, entgegnete Oppenheim.
»Ich bin hier, Rabbi, weil ich gehofft hatte, dass Sie mir noch mehr darüber sagen könnten.«
»Mehr? Wie darf ich das verstehen?«
»Ich spreche von jenem Wissen, das nicht in den Büchern steht«, erwiderte Sarah leise. »Wissen, das von Generation zu Generation weitergegeben wurde und vom Geheimnis des Lebens selbst berichtet.«
»Vom Geheimnis des Lebens?« Der Rabbiner bedachte Gustav, der den Wortwechsel atemlos und mit großen Augen verfolgte, mit einem Seitenblick. Einen Moment lang schien er zu erwägen, den Jungen wegzuschicken, entschied sich dann aber dagegen. »Sie sprechen große Worte aus, Lady Kincaid.«
»Ich weiß, Rabbi.«
»Was bringt Sie auf den Gedanken, dass ich etwas über derlei Dinge wissen könnte?«
»Aus meinen Nachforschungen weiß ich, dass ein gewisser David Oppenheim im 17. Jahrhundert Oberrabbiner von Prag gewesen ist«, antwortete Sarah. »Wie es heißt, war er im Besitz zahlreicher kostbarer alter Schriften, unter anderem aus dem Nachlass Rabbi Löws. Und man muss kein Hellseher sein, um zu vermuten, dass jener David Oppenheim Ihr Ahne gewesen ist – und dass er Ihrer Familie zumindest einen Teil jener Schriften hinterlassen hat.«
Oppenheim antwortete nicht sofort. Die Betroffenheit war seinen bärtigen Gesichtszügen anzusehen, gleichwohl war unmöglich zu erahnen, was er dachte.
»Erstaunlich«, sagte er schließlich. »Das alles ist sehr erstaunlich …«
»Wie darf ich das verstehen?«
»Lady Kincaid – Sie müssen wissen, dass mit dem Schicksal jener alten Schriftrollen eine Weissagung verknüpft ist.«
»Eine Weissagung?«
»Allerdings. In all den Jahrhunderten, in denen sich diese Bücher nun in unserem Besitz befinden, hieß es stets, dass eines Tages jemand kommen und sich nach ihrem Verbleib erkundigen werde. Möglicherweise -und dieser Gedanke erschreckt mich zutiefst – sind Sie dieser Jemand.«
»Weshalb finden Sie diesen Gedanken so erschreckend?«, erkundigte sich Sarah. »Weil ich eine Frau bin? Oder nicht jüdischen Glaubens?«
»Nein«, antwortete der Rabbiner mit düsterer Stimme, »sondern weil …« Er unterbrach sich und dachte einen Augenblick nach, schien sich dann anders zu besinnen. »Aus welchem Grund suchen Sie das Geheimnis des Golems zu ergründen?«, wollte er stattdessen wissen.
»Wie darf ich diese Frage verstehen?«
»Suchen Sie Ruhm für sich selbst? Wollen Sie Unsterblichkeit erlangen? Wollen
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