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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Sie Gottes Schöpfung nachahmen? Oder ihr gar trotzen?«
    Die Augen des Rabbiners hatten sich zu Schlitzen verengt, und die Art und Weise, wie er seine Worte betonte und ihnen damit zusätzliches Gewicht verlieh, zeigte ihr, wie ernst es ihm war. Unwillkürlich fühlte sie sich daran erinnert, dass ihr eine ähnliche Frage schon einmal gestellt worden war, an einem anderen Ort und zu früherer Zeit. Der sie ihr gestellt hatte, war ihr nicht weniger klug und weise erschienen als der alte Rabbiner …
    »Der Mann, den ich liebe, liegt im Sterben«, erklärte sie direkt und ohne Vorbereitung. »Ein rätselhaftes Fieber hat von ihm Besitz ergriffen, gegen das keiner der konsultierten Ärzte ein Heilmittel kennt. Nur um seinetwillen bin ich gekommen.«
    »Ich verstehe«, erwiderte der Rabbiner, nunmehr wieder sanft und einfühlsam. »Dennoch begreife ich nicht, warum Ihre Suche Sie ausgerechnet hierher geführt hat …«
    »Jener Zustand, der meinen Geliebten gefangen hält, wurde künstlich herbeigeführt«, erwiderte Sarah. »Ein Gift, ein Trank oder was auch immer wurde ihm verabreicht. Ich vermag es nicht schlüssig zu erklären, aber es gibt Parallelen.«
    »Parallelen?« Oppenheim hob die ergrauten Brauen.
    »Zu der Art und Weise, wie der Sage nach der Golem zum Leben erweckt wurde«, erklärte Sarah. »Darüber hinaus bin ich zu der ernüchternden Einsicht gelangt, dass es gewisse Kreise gibt, die offenbar ein massives Interesse daran haben, dass ich mich auf diese Reise begebe.«
    »Wie darf ich das verstehen? Sie sprechen in Rätseln …«
    Sarah seufzte. Wie sollte sie etwas erklären, das sie ja selbst kaum verstand? Wie etwas begreiflich machen, das sich ihrem eigenen Erfassen entzog? »Es ist schwer in Worte zu fassen«, räumte sie ein. »Jemand wollte, dass ich hierher komme. Man gab mir Hinweise, denen ich folgen sollte, und sie haben mich an diesen Ort geführt. Zu Ihnen.«
    »Zu mir?« Der Rabbiner schaute sie fragend an, die Zweifel in seinen Blicken waren unübersehbar.
    »Ich weiß, wie seltsam sich das alles anhören muss, und es steht Ihnen frei, mich für verrückt zu halten«, sagte Sarah. »Für eine Frau von Adel, die über dem Studium ihrer Bücher den Verstand verloren und eine ebenso weite wie sinnlose Reise auf sich genommen hat, um ihren Phantasmagorien nachzujagen. Aber es ändert nichts daran, dass ich hier bin und nach Antworten suche – denn diese Antworten sind alles, was meinen armen Kamal noch retten kann.«
    »Kamal? Ist das sein Name?«
    »Ja, Rabbi.«
    »So ist er kein Christ, sondern ein Anhänger Mohammeds?«
    »Auch das ist wahr.«
    Oppenheim nickte, und ein zufriedenes Lächeln glitt über seine faltigen Züge. »So weiß ich jetzt, dass es nicht nur hohle Worte waren, als Sie eingangs von Gottes Kindern sprachen.«
    »Sicher nicht«, beteuerte Sarah. »Noch vor einiger Zeit habe ich anders darüber gedacht, aber inzwischen glaube ich, dass wir alle Kinder eines höheren Schicksals sind. Ich habe lange versucht, dieses Schicksal zu leugnen und mit dem Verstand nach Antworten gesucht, aber irgendwann musste ich erkennen, dass es Weisheiten gibt, die jenseits menschlichen Begreifens liegen. Aus diesem Grund bin ich hier, Rabbi Oppenheim. Auf der Suche nach Antworten bin ich dem Schicksal gefolgt, und es hat mich hergeführt.«
    Erneut blieb der Rabbiner eine Erwiderung schuldig. Eine endlos scheinende Weile lang blickte er Sarah prüfend ins Gesicht, ehe er sich zu einem bedächtigen Nicken entschloss. »Lady Kincaid«, sagte er schließlich leise, »ich weiß weder, was all das bedeutet, noch, was ich davon halten soll. Aber etwas in Ihren Worten und in Ihrer Art zu sprechen bewegt mich dazu, Ihnen zu vertrauen. Aus diesem Grund möchte ich Ihnen etwas zeigen, das bislang nur wenige Augen erblickt haben. Bitte folgen Sie mir.«
    Er wandte sich um und setzte sich in Bewegung, gefolgt von Sarah, die gespannt war, was der Rabbiner ihr zeigen würde. Der junge Gustav stand einen Augenblick unschlüssig da, aber da ihm niemand zurückzubleiben gebot, schloss er sich an. Durch eine Tür verließen sie die Synagoge und gelangten erneut in die Wandelhalle, die das Haus umlief. Durch mehrere von Kerzenschein beleuchtete Kammern gelangten sie zu einer Tür, die Oppenheim mit einem großen, rostigen Schlüssel öffnete, den er unter seinem Gewand hervorzog.
    Knarrend schwang das morsche Blatt auf und gab den Blick auf eine hölzerne Treppenkonstruktion frei, die steil nach oben führte.

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