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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Hintergrund des rauschenden Regens hatten sie nicht bemerkt, wie sich die Pforte der Synagoge ein Stück geöffnet hatte und ein gerötetes, rundliches Gesicht erschienen war, das von grauem Haar und Bart umrahmt wurde und ihnen im nächsten Moment ein leises »Schalom« entbot.
    »Schalom«, entgegnete Gustav und verbeugte sich. »Rabbi Oppenheim, dies sind Lady Kincaid und ihre Begleiter.«
    »Das habe ich angenommen«, erwiderte der Rabbiner, der der englischen Sprache ebenso fließend mächtig war wie der Junge. Seine Stimme war von einer angenehmen Milde, auch wenn Sarah darin einen Hauch von Spott zu erkennen glaubte.
    »Schalom, Rabbi Oppenheim«, sagte sie und senkte ehrerbietig das Haupt. »Danke, dass Sie uns empfangen. Es ist mir eine Ehre.«
    »Es klingt ehrlich, wie Sie das sagen«, stellte Oppenheim fest und schien augenblicklich ein wenig wohlwollender gestimmt. »Gustav sagte mir, dass Sie mich zu sprechen wünschen.«
    »Das ist richtig.«
    »Und diese beiden Gentlemen?«
    »Sind meine Begleiter. Dr. Friedrich Hingis von der Archäologischen Fakultät der Universität Genf …«
    »… sowie Dr. Horace Cranston, Spezialist für Gehirnmedizin«, sagte Cranston schnell, dem der Gedanke, von einer Dame vorgestellt zu werden, unerträglich schien.
    »Hm«, machte der Rabbiner und schürzte in gespielter Ehrfurcht die Lippen. »So haben wir heute also gelehrte Häupter zu Gast im Haus des Herrn. Wie Gustav sagte, wollen Sie mit mir über den Golem sprechen …«
    »Das ist richtig.« Sarah nickte. »Ich würde Ihnen gern einige Fragen stellen, wenn Sie gestatten.«
    »Glauben Sie denn an seine Existenz?«
    »Wie bitte?«
    »Vor einigen Wochen, Lady Kincaid, standen an dieser Stelle zwei Ihrer Landsleute, Reporter von der London Times.«
    »Ich weiß«, bestätigte Sarah. »Ich habe den Artikel gelesen …«
    »Auch sie wollten wissen, was es mit dem Golem und seiner Rückkehr auf sich hätte, aber sie zeigten nicht eine Spur von Respekt oder Ehrfurcht und schienen nur auf der Suche nach einer guten Schlagzeile zu sein. Deshalb wiederhole ich an dieser Stelle meine Frage an Sie, Lady Kincaid: Glauben Sie an die Existenz des Golem?«
    »Ich denke, das hängt ganz von Ihren Antworten ab«, entgegnete Sarah wortgewandt. »In jedem Fall aber hat mich die Erfahrung gelehrt, dass es manches gibt, wofür der rationale Verstand nicht auf Anhieb eine Erklärung findet.«
    »Nun gut«, meinte der Rabbiner und stieß die Pforte zur Synagoge vollends auf. Dabei wurde die schwarze Robe sichtbar, die er als Zeichen seines Amtes trug. »Mit diesen Worten, Mylady, haben Sie die Tür zu Gottes Haus geöffnet. Treten Sie ein.«
    Sarah nickte dankbar und kam der Aufforderung nach. Als Hingis ihr jedoch folgen wollte, ging Oppenheim dazwischen. »Nur Lady Kincaid und der Junge«, stellte er klar.
    »Aber wir sind ihre Begleiter«, wandte Cranston energisch ein. »Es kommt nicht in Frage, dass …«
    »Bitte, Doktor«, fiel Sarah ihm ins Wort und gab ihm mit einem eindringlichen Blick zu verstehen, dass sie auch allein zurechtkommen würde. Cranston ließ daraufhin ein geräuschvolles Schnauben vernehmen, und seine hagere Gestalt straffte sich.
    »Wie Sie wollen«, meinte er nur. »Dann viel Glück auf der Jagd. Tally-ho.«
    Sie nickte und folgte dem Rabbiner, und nachdem auch der junge Gustav die Schwelle übertreten hatte, schloss und verriegelte Oppenheim die Tür. Kerzenschein und das Licht bronzener Öllampen erhellten den Raum, der sich vor ihnen erstreckte und dessen hohes, gotisches Gewölbe von zwei achteckigen Säulen getragen wurde. Aus dunklem Holz gearbeitetes Gestühl säumte die Wände, die Mitte der Halle wurde von einem Rednerpult eingenommen, das von einem prachtvollen schmiedeeisernen Gitter umgeben war. Jenseits der Säulen, unter einem kunstvoll gearbeiteten Tympanon, befand sich das eigentliche Herz der Synagoge: der Thoraschrein, in dem die heiligen Schriftrollen aufbewahrt wurden.
    »Dieser Ort«, sagte Oppenheim leise, »hat allen Anfechtungen widerstanden, denen mein Volk in den vergangenen Jahrhunderten ausgesetzt war. Oft genug hat er Zuflucht und Schutz gewährt, und bedeutsame Dinge sind hier geschehen.«
    »Ich weiß«, sagte Sarah nur und beugte das Haupt in Respekt und Ehrfurcht – eine Geste, die dem Rabbiner zu gefallen schien.
    »Und Sie sind tatsächlich eine englische Lady?«, erkundigte er sich in offener Verwunderung. »Ehrlich gesagt, sind Sie nicht ganz das, was ich erwartet hatte

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