Am Ufer
zugelassen, daß der Wind sich gedreht hat, du hast die Tür geöffnet, und nun hat die Liebe dein Leben mitgerissen. Aber wenn wir jetzt schnell handeln, bekommen wir alles wieder in den Griff.‹
Ich mußte etwas Handfestes tun. Vorkehrungen treffen.
›Er ist weg‹, fuhr die Andere fort. ›Du mußt sehen, wie du hier vom Ende der Welt irgendwie wegkommst. Dein Leben in Saragossa ist von all dem noch unberührt: Lauf schnell wieder zurück. Bevor du verlierst, was du dir mühsam aufgebaut hast.‹
›Er wird seine Gründe gehabt haben‹, dachte ich.
›Die Männer haben immer irgendeinen Grund ‹ entgegnete die Andere. ›Tatsache aber ist, daß sie am Ende immer die Frauen verlassen.‹
Ich mußte also sehen, wie ich wieder nach Spanien zurückkam. Der Kopf muß immer etwas zu tun haben.
›Sehen wir einmal die praktische Seite: das Geld‹, sagte die Andere.
Ich besaß keinen Centavo. Ich würde hinuntergehen, ein R-Gespräch mit meinen Eltern führen und warten müssen, bis sie mir das Geld für die Rückfahrt schickten. Doch heute war Feiertag, und das Geld würde erst morgen kommen. Wie sollte ich etwas zu essen bekommen? Wie sollte ich den Hausbesitzern erklären, daß sie zwei Tage warten mußten, bis ich sie bezahlen konnte?
›Am besten gar nichts sagen‹, antwortete die Andere. Ja, sie hatte Erfahrung, sie wußte, was in solchen Situationen zu tun war. Sie war kein verliebtes Mädchen, das die Fassung verliert, sondern eine Frau, die immer weiß, was sie vom Leben will. Am besten blieb ich einfach hier, als wäre nichts geschehen, als würde er wiederkommen. Und wenn das Geld käme, würde ich meine Schulden bezahlen und abreisen.
›Ausgezeichnet‹, sagte die Andere. ›Allmählich wirst du wieder du selbst. Sei nicht traurig – irgendwann wirst du schon einen Mann treffen. Einen, den du ohne Risiko lieben kannst.‹
Ich nahm meine Wäsche von der Heizung. Sie war trocken. Ich mußte herausbekommen, in welchem Städtchen es hier eine Bank gab und wo man telefonieren konnte. Solange ich mich beschäftigte, war für Tränen und Sehnsucht keine Zeit.
Da entdeckte ich einen Zettel, den er für mich geschrieben hatte:
Bin ins Seminar gefahren. Pack Deine Sachen. Wir fahren morgen nach Spanien. Bin nachmittags wieder zurück.
Und am Ende stand: Ich liebe Dich.
Ich preßte den Zettel ans Herz, fühlte mich zugleich elend und erleichtert. Ich spürte, wie die Andere völlig überrumpelt in sich zusammenschrumpfte.
Auch ich liebte ihn. Mit jeder Minute, mit jeder Sekunde wuchs diese Liebe und veränderte mich. Ich hatte wieder Vertrauen in die Zukunft und erlangte – ganz allmählich – wieder den Glauben an Gott zurück.
Alles wegen der Liebe.
›Ich will nicht mehr mit meinen eigenen dunklen Seiten reden‹, versprach ich mir selbst, indem ich der Anderen endgültig Tür und Tor verschloß. ›Ein Sturz aus dem dritten Stock ist genauso schlimm wie einer aus dem hundertsten. Wenn ich schon fallen soll, dann lieber aus allerhöchster Höhe.‹
»Sie sollten nicht schon wieder ohne Frühstück aus dem Haus gehen«, sagte die Frau.
»Ich wußte gar nicht, daß Sie Spanisch sprechen«, antwortete ich überrascht.
»Die Grenze ist ganz in der Nähe. Im Sommer kommen die Touristen nach Lourdes. Ohne Spanischkenntnisse würde ich keine Zimmer vermieten.«
Sie bereitete Toast und Kaffee zu. Ich begann mich innerlich auf diesen Tag vorzubereiten; jede einzelne Stunde würde mir wie ein Jahr vorkommen. Hoffentlich lenkte mich dieses Frühstück ein wenig ab.
»Wie lange sind Sie schon verheiratet?« fragte sie. »Er war meine erste Liebe«, antwortete ich. Das genügte.
»Sehen Sie die Gipfel dort draußen?« fuhr die Frau fort. »Meine erste Liebe starb auf einem dieser Berge.«
»Aber zumindest haben Sie wieder jemanden gefunden.«
»Ja, das habe ich. Und ich bin wieder glücklich geworden. Das Schicksal ist merkwürdig: Ich kenne fast niemanden, der seine erste Liebe geheiratet hat. Diejenigen, die heiraten, sagen mir immer, daß sie etwas Wichtiges verloren haben, daß sie nicht alles erlebt haben, was sie hätten erleben können.«
Sie hielt plötzlich inne.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie. »Ich wollte Ihnen nicht weh tun.«
»Sie tun mir nicht weh.«
»Ich schaue immer auf den Brunnen da draußen. Und dann denke ich: Vorher wußte niemand, daß dort Wasser war – bis der heilige Savinus anfing, dort zu graben, und es entdeckte. Hätte er es nicht getan, läge die Stadt
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