Am Ufer
wunderschön. Von den Fenstern aus sieht man das Tal dort unten und oben die beschneiten Gipfel. Aber das wissen Sie schon, nicht wahr?«
Da wußte ich, wer er war: der Superior des Klosters.
»Was machen Sie denn hier?« fragte ich. »Und woher kennen Sie meinen Namen?«
»Wollen Sie nicht hereinkommen?« fragte er, das Thema wechselnd.
»Nein. Ich möchte, daß Sie auf meine Frage antworten.«
Er rieb sich die Hände, um sie zu wärmen, und setzte sich auf den Bordstein. Ich setzte mich neben ihn. Der Nebel wurde immer dichter und hatte inzwischen die Kirche verschluckt, die nur zwanzig Meter von uns entfernt lag.
Wir konnten nur den Brunnen sehen. Ich dachte an die Worte der Frau.
»Sie ist hier«, sagte ich.
»Wer?«
»Die Göttin«, antwortete ich. »Sie ist im Nebel.«
»Er hat also mit Ihnen darüber gesprochen!« sagte er lachend. »Nun, ich nenne sie lieber die Heilige Jungfrau Maria. Ich bin das so gewohnt.«
»Was machen Sie hier? Woher kennen Sie meinen Namen?« wiederholte ich.
»Ich wollte Sie beide sehen. Jemand, der gestern in der Gruppe der Charismatiker war, hat mir erzählt, daß Sie in Saint-Savin abgestiegen sind. Und Saint-Savin ist eine sehr kleine Stadt.«
»Er ist zum Seminar gefahren.«
Der Pater hörte auf zu lächeln und wiegte seinen Kopf.
»Wie schade«, sagte er, als würde er mit sich selbst reden.
»Schade, daß er zum Priesterseminar gefahren ist?«
»Nein, dort ist er nicht. Da komme ich gerade her.«
Einige Minuten lang sagte ich nichts. Ich erinnerte mich wieder an das Gefühl, das ich am Morgen gehabt hatte: das Geld, die Vorkehrungen, das Telefonat mit meinen Eltern, die Fahrkarte. Doch ich hatte einen Schwur getan, und den würde ich halten.
Ein Pater saß neben mir. Als Kind hatte ich alles den Patern gebeichtet.
»Ich bin erschöpft«, sagte ich, das Schweigen brechend. »Vor nicht einmal einer Woche wußte ich, wer ich war und was ich vom Leben erwartete. Jetzt ist mir, als wäre ich in einen Sturm geraten, der mich hin und her schüttelt und dem ich wehrlos ausgeliefert bin.«
»Halten Sie stand«, sagte der Pater. »Das ist wichtig.«
Ich war über diese Bemerkung verwundert.
»Erschrecken Sie nicht«, fuhr er fort, als hätte er meine Gedanken erraten. »Ich weiß, daß die Kirche junge Priester braucht, und er wäre ein ausgezeichneter Priester. Doch der Preis, den er dafür zahlen müßte, ist sehr hoch.«
»Wo ist er? Hat er mich hiergelassen und ist nach Spanien zurückgefahren?«
»Nach Spanien? In Spanien hat er nichts zu tun«, sagte der Pater. »Sein Haus ist das Kloster, und das liegt wenige Kilometer von hier entfernt. Dort ist er nicht. Aber ich weiß, wo ich ihn finden kann.«
Seine Worte machten mich wieder froh und gaben mir meinen Mut zurück. Wenigstens war er nicht fort.
Doch der Pater lächelte nicht mehr.
»Freuen Sie sich nicht zu sehr«, fuhr er fort, als hätte er wieder meine Gedanken erraten. »Es wäre besser gewesen, er wäre nach Spanien zurückgekehrt.«
Der Pater erhob sich und bat mich, ihn zu begleiten. Man konnte nur wenige Meter weit sehen, doch er schien zu wissen, wohin er wollte. Wir verließen Saint-Savin auf demselben Weg, den wir zwei – oder waren es schon fünf? – Nächte zuvor gefahren waren, als er mir die Geschichte der Bernadette erzählt hatte.
»Wohin gehen wir?« fragte ich.
»Wir werden ihn holen«, sagte der Pater.
»Pater, Sie verwirren mich«, sagte ich, während wir gingen. »Wie mir scheint, hat es Sie betrübt zu hören, daß er nicht dort sei.«
»Was wissen Sie über das Priesterleben, mein Kind?«
»Sehr wenig. Daß die Pater Armut, Keuschheit und Gehorsam geloben.«
Ich zögerte etwas und sagte dann doch: »Und daß sie über die Sünden der anderen richten, obwohl sie die gleichen Sünden begehen. Daß sie glauben, über die Ehe und die Liebe alles zu wissen, aber nie heiraten. Daß sie uns wegen Dingen mit der Hölle drohen, die sie selbst auch tun. Und uns einen rächenden Gott zeigen, der den Menschen die Schuld am Tode seines einzigen Sohnes gibt.«
Der Pater lachte.
»Sie haben eine ausgezeichnete katholische Erziehung genossen«, sagte er. »Doch ich frage nicht nach dem Katholizismus, ich frage nach dem spirituellen Leben.«
Ich sagte nichts.
»Ich weiß es nicht genau«, meinte ich schließlich. »Es sind Menschen, die alles aufgeben und sich auf die Suche nach Gott machen.«
»Und finden sie ihn?«
»Die Antwort kennen Sie. Ich habe keine Ahnung.«
Der Pater
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