Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ufer

Am Ufer

Titel: Am Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo
Vom Netzwerk:
mich zutrat und mir den Arm um die Schulter legte und ein anderer von rechts es ihm gleichtat. Dann beugten wir uns alle nach vorn, und unsere Köpfe berührten sich.
    »Möge die Heilige Mutter Gottes von der Unbefleckten Empfängnis meinem Sohn helfen und ihm den rechten Weg weisen«, sagte die Stimme des Mannes, der mich rechts umfangen hielt. »Ich bitte euch, ein Ave-Maria für meinen Sohn zu beten.«
    »Amen«, antworteten alle. Und die acht beteten ein Ave-Maria.
    »Möge die Heilige Mutter Gottes von der Unbefleckten Empfängnis mich erleuchten und in mir die Gabe des Heilens wecken«, sagte die Stimme einer Frau in meiner Gruppe. »Laßt uns ein Ave-Maria beten.«
    Und wieder sagten alle »Amen« und beteten.
    Jeder sagte eine Bitte, und alle beteten gemeinsam. Ich war über mich selbst verwundert, denn ich betete wie ein Kind – und wie ein Kind glaubte ich, daß die Gebete erhört werden würden.
    Die Gruppe schwieg den Bruchteil einer Sekunde lang. Ich merkte, daß ich nun an der Reihe war, um etwas zu bitten. In jeder anderen Situation hätte ich mich zu Tode geschämt und kein Wort herausgebracht. Doch etwas war mir nahe, was mir Vertrauen einflößte.
    »Möge die Heilige Mutter Gottes von der Unbefleckten Empfängnis mich lehren, wie sie zu lieben«, sagte ich. »Möge diese Liebe mich und den Mann, dem sie gilt, wachsen lassen. Laßt uns ein Ave-Maria beten.«
    Wir beteten gemeinsam, und wieder erfüllte mich dieses Gefühl von Freiheit. Jahrelang hatte ich gegen mein Herz gekämpft, weil ich mich vor der Traurigkeit, dem Leiden, dem Verlassensein fürchtete. Ich hatte immer gewußt, daß die wahre Liebe über all diesem stand und daß es besser war zu sterben als nicht mehr zu lieben.
    Aber ich hatte immer geglaubt, nur die anderen hätten den Mut. Und jetzt, in diesem Augenblick, entdeckte ich, daß auch ich dazu fähig war. Auch wenn es Trennung, Einsamkeit, Traurigkeit bedeuten mochte, die Liebe war es wert.
    ›Ich darf jetzt nicht über all diese Dinge nachdenken, ich muß mich auf das Ritual konzentrieren.‹ Der Priester, der unsere Gruppe leitete, bat uns nun, einander loszulassen und für die Kranken zu beten. Alle beteten, sangen, tanzten im Regen, beteten zu Gott und zur Heiligen Jungfrau Maria und sprachen wieder in fremden Zungen und wiegten sich mit zum Himmel gereckten Armen.
    »So jemand hier ist, dessen Schwiegertochter krank ist, so wisse er, daß sie geheilt wird«, sagte irgendwann eine Frau.
    Die Gebete ertönten wieder, die Gesänge ertönten wieder und mit ihnen die Freude.
    »So jemand in dieser Gruppe kürzlich seine Mutter verloren hat, so glaube er und wisse, daß sie im Himmel ist.«
    Später erzählte er mir, daß dies die Gabe der Prophezeiung sei, daß bestimmte Menschen fähig seien, zu spüren, was an einem fernen Ort geschah oder kurze Zeit darauf geschehen würde.
    Doch auch wenn ich das nie erfahren hatte, glaubte ich an die Kraft der Stimme, die von den Wundern redete. Ich hoffte, daß sie irgendwann über die Liebe von zwei dort anwesenden Menschen sprechen würde. Ich hoffte darauf, die Stimme sagen zu hören, daß diese Liebe von allen Engeln, Heiligen, von Gott und von der Göttin gesegnet sei.
    Ich weiß nicht, wie lange dieses Ritual gedauert hat. Die Menschen sprachen immer wieder in fremden Zungen, sangen, tanzten mit zum Himmel gereckten Armen, beteten für ihren Nächsten, baten um Wunder, bezeugten Gnaden, die ihnen widerfahren waren.
    Schließlich sagte der Pater, der die Zeremonie leitete:
    »Laßt uns singend für alle Menschen beten, die das erste Mal an dieser charismatischen Erneuerung teilgenommen haben.«
    Ich war also nicht die einzige. Das beruhigte mich.
    Alle sangen ein Gebet. Dieses Mal hörte ich nur zu, betete darum, daß mir Gnade zuteil werde.
    Ich brauchte viel davon.
    »Laßt uns den Segen empfangen«, sagte der Pater.
    Alle wandten sich zur erleuchteten Grotte auf der anderen Seite des Baches. Der Pater sprach mehrere Gebete und segnete uns. Dann küßten sich alle und wünschten einander einen glücklichen Tag der Unbefleckten Empfängnis, und jeder ging seines Weges.
    Er kam auf mich zu. Er sah noch fröhlicher aus als sonst.
    »Du bist klitschnaß«, sagte er.
    »Du aber auch«, antwortete ich lachend.
    Wir fuhren im Wagen nach Saint-Savin zurück. Ich hatte diesen Augenblick so sehnlich erwartet, aber jetzt wußte ich nicht, was ich sagen sollte. Ich konnte nichts zum Haus in den Bergen, über das Ritual, die Bücher und die

Weitere Kostenlose Bücher