Amber-Zyklus 09 - Ritter der Schatten: der Titel
noch höher hinauf und versuchte, einen Blick auf die Gesichter der beiden mir am nächsten Stehenden zu werfen. Irgend etwas an dieser Gruppe kam mir vertraut vor, und ich hatte das Gefühl, wenn ich eine der Gestalten erkennen könnte, gäbe mir das vielleicht einen Aufschluß über ihrer aller Identität.
Eine weitere Frage, die mich sehr stark beschäftigte, lautete: Was riefen sie herbei? War ich hier oben auf der Mauer sicher, so nahe am Geschehen, falls etwas Außergewöhnliches in Erscheinung treten sollte? Es hatte nicht den Anschein, als ob dort unten irgendwelche Beschränkungen herrschten. Ich zog mich noch höher hinauf. Ich spürte, wie sich mein Schwerpunkt verlagerte, während genau im selben Augenblick meine Sicht auf die Dinge noch besser wurde. Dann merkte ich, daß ich mich ohne jede Anstrengung vorwärtsbewegte. Gleich darauf wurde mir klar, daß die Mauer in sich zusammenbrach und mich weitertrug, mitten hinein in dieses Ritual mit der eigenartigen Choreographie. Ich versuchte, mich von der Wand abzustoßen, in der Hoffnung, am Boden zu landen und mich abrollen zu können, um dann wie der Blitz davonzurennen. Doch es war bereits zu spät. Mein jähes Emporstoßen hob mich zwar hoch in die Luft, bremste meinen Schwung nach vorn jedoch kaum.
Unter mir rührte sich niemand, obwohl Geröll auf sie alle herabrieselte, und während des Fallens schnappte ich endlich einige erkennbare Worte auf.
»...rufe dich, Merlin, damit du jetzt in meine Macht hineinfällst!« lautete der Wortlaut eines Singsangs, den eine der Frauen herunterleierte.
Immerhin, ein ziemlich wirkungsvolles Ritual, entschied ich, als ich mit dem Rücken auf dem Pentagramm landete, mit den Armen auf Schulterhöhe zur Seite wedelnd, die Beine gespreizt. Es gelang mir, das Kinn abzudecken und den Kopf zu schützen, und durch das Schlagen der Arme erreichte ich offenbar eine Abbremsung meines Falls, so daß ich beim Aufprall nicht ernstlich verletzt wurde. Einige Sekunden lang tanzten die hohen Feuertürme wild um mich herum, dann ebbten sie wieder zu gleichmäßig lodernden Flammen ab. Die fünf Gestalten blickten immer noch nach außen. Ich versuchte, mich zu erheben, und mußte feststellen, daß ich nicht dazu in der Lage war. Es war, als ob ich in meiner derzeitigen Körperhaltung erstarrt wäre.
Frakir hatte mich während des Fallens zu spät gewarnt, und jetzt war ich mir nicht sicher, zu welchem Zweck ich sie einsetzen sollte. Sie hätte zu einer der Gestalten schleichen können, mit dem Auftrag, sich einen Weg zu deren Kehle zu bahnen und einen Würgereiz auszulösen. Doch bis jetzt wußte ich nicht, welche von ihnen - falls überhaupt - eine solche Behandlung verdienen mochte.
»Ich platze ungern irgendwo ohne Vorankündigung herein«, sagte ich, »und ich sehe sehr wohl, daß das hier eine geschlossene Gesellschaft ist. Wenn irgend jemand so gut sein möchte, mich zu befreien, dann verschwinde ich auf der Stelle...«
Die Gestalt, die in der Nähe meines linken Fußes stand, wandte mir das Gesicht zu und musterte mich von oben herab. Sie trug ein blaues Gewand, doch ihr vom Feuer gerötetes Gesicht war von keiner Maske verdeckt. Sie zeigte lediglich ein angespanntes Lächeln, das gleich wieder verging, als sie sich über die Lippen leckte. Es war Julia, und sie hielt ein Messer in der rechten Hand.
»Immer noch der alte Klugscheißer«, sagte sie.
»Stets mit einer vorwitzigen Antwort zur Hand. Dahinter verbirgst du deine mangelnde Bereitschaft, dich für irgend etwas oder irgend jemanden zu verpflichten. Und dabei machst du auch keinen Unterschied bei jenen, die dich lieben.«
»Es könnte sich vielleicht auch einfach um einen gewissen Sinn für Humor handeln«, sagte ich, »den du nie besessen hast, wie mir allmählich klar wird.«
Sie schüttelte langsam den Kopf.
»Du hältst jedermann auf Armeslänge von dir fern. Man kann dir nicht trauen.«
»Das liegt in der Familie«, entgegnete ich. »Aber Klugheit schließt Gefühle nicht aus.«
Sie hatte die Klinge erhoben, doch eine Sekunde lang schwankte sie offensichtlich.
»Willst du damit sagen, daß dir immer noch etwas an mir liegt?« fragte sie.
»Das hat nie aufgehört«, sagte ich. »Es war nur so, daß du plötzlich zu stark auf mich eingewirkt hast. Du wolltest mehr von mir, als ich zu dem Zeitpunkt zu geben bereit war.«
»Du lügst«, sagte sie, »denn ich halte dein Leben in der Hand.«
»Ich könnte mir viele schlechtere Gründe zum Lügen
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