Amber-Zyklus 09 - Ritter der Schatten: der Titel
unbeschädigt war und immer noch zu beiden Seiten von der Wand begrenzt zu sein schien.
Ich untersuchte weiterhin das anscheinend gespiegelte Gebüsch und hielt nach irgendwelchen Anzeichen, Omen, Hinweisen oder einfach nur nach einer kleinen Bewegung Ausschau. Nichts davon wurde sichtbar, obwohl ich ein sehr reales Gefühl von Tiefe hatte. Ich spürte beinahe, wie eine kalte Brise meinen Hals umwehte. Ich muß mehrere Minuten lang dagestanden und gestarrt haben, in der Erwartung, daß der Spiegel etwas Neues hervorbrächte. Doch das geschah nicht. Wenn das alles war, was der Spiegel bieten konnte, dann wurde es Zeit, meinen Weg fortzusetzen, entschied ich.
In diesem Moment glaubte ich, eine Bewegung in den Büschen hinter mir wahrzunehmen, was mich veranlaßte, reflexartig zu handeln. Ich drehte mich schnell um und hielt die Hände hoch.
Es war lediglich der Wind gewesen, der das Rascheln der Büsche verursacht hatte, wie ich jetzt sah. Und dann stellte ich fest, daß ich nicht in dem Gang war, und drehte mich erneut um. Der Spiegel und die Wand waren verschwunden. Ich sah mich jetzt einem flachen Hügel gegenüber, mit einer Linie aus zerbrochenem Mauerwerk obenauf. Licht flackerte hinter dieser eingestürzten Mauer. Sowohl meine Neugier als auch meine zielgerichtete Vernunft wurden dadurch angesprochen, und ich begann den langsamen Aufstieg mit unverminderter Wachsamkeit.
Während ich hinaufkletterte, verdunkelte sich der Himmel; er war wolkenlos, und ein Gewirr von Sternen pulsierte darüber in einer unvertrauten Konstellation. Ich bewegte mich einigermaßen verstohlen zwischen Steinen, Gräsern, Büschen und zerbrochenem Mauerwerk. Hinter der von Weinranken überwucherten Mauer hörte ich Stimmen. Obwohl ich die einzelnen gesprochenen Worte nicht unterscheiden konnte, hatte ich nicht den Eindruck, daß ich einer Unterhaltung lauschte, sondern vielmehr einer Kakophonie -als ob ein Reihe von Einzelpersonen beiderlei Geschlechts und unterschiedlichen Alters gleichzeitig Monologe hielt.
Als ich den Hügelkamm erreicht hatte, streckte ich die Hand aus, bis sie mit der unregelmäßigen Oberfläche der Mauer in Berührung kam. Ich beschloß, daß ich nicht um sie herumgehen und nachsehen wollte, was auf der anderen Seite los war. Dadurch hätte ich mich womöglich für wer weiß was sichtbar gemacht. Es erschien mir einfach, so weit hinaufzureichen, wie ich nur konnte, meine Finger in die nächstliegende Vertiefung einzuhaken und mich hinaufzuziehen -was ich dann auch tat. Meine Zehen fanden sogar einen Halt, während ich mich dem oberen Rand näherte, und ich konnte meine angestrengten Arme ein wenig entlasten, als ich einen Teil meines Gewichts auf sie verlagerte.
Ich hievte mich vorsichtig die letzten paar Zentimeter hoch und spähte an zerbrochenem Gestein vorbei hinunter ins Innere des zerstörten Bauwerks. Anscheinend war es so etwas wie eine Kirche gewesen. Das Dach war zusammengefallen, doch die gegenüberliegende Wand stand noch, etwa im gleichen Zustand wie jene, an der ich hing. Auf einem Podest zu meiner Linken stand ein reichlich mitgenommener Altar. Was immer hier geschehen sein mochte, mußte vor langer Zeit geschehen sein, denn sowohl im Innern des Bauwerks als auch außen herum wuchsen Büsche und Ranken, die die Umrisse zusammengebrochener Kirchenbänke, eingestürzter Säulen und Bruchstücke des Daches verwischten.
Unter mir war auf eine freie Fläche ein Pentagramm gezeichnet worden. In jeder Spitze des Sterns stand eine Gestalt, das Gesicht nach außen gerichtet. Im Innern, an den fünf Kreuzungspunkten der Linien, brannte eine Fackel, deren Stab in der Erde steckte. Das kam mir wie eine etwas seltsame Abart der Rituale vor, mit denen ich vertraut war, und ich machte mir so meine Gedanken über die Bedeutung der Gestalten und fragte mich, warum die fünf nicht besser geschützt waren und warum sie nicht gemeinsame Sache machten, anstatt daß jeder anscheinend auf einem persönlichen Trip war und den anderen keine Beachtung schenkte. Die drei, die ich deutlich sehen konnte, hatten mir jeweils den Rücken zugewandt. Die beiden, die in meine Richtung blickten, befanden sich nur gerade eben in meinem Blickfeld, und ihre Gesichter waren vom Schatten bedeckt. Einige der Stimmen waren männlich, einige weiblich. Eine Stimme sang eine Melodie; zwei Stimmen leierten einen Singsang, und die anderen beiden sprachen offenbar nur, wenn auch in einer gekünstelten, aufgesetzten Tonart.
Ich hievte mich
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