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Ambient 03 - Ambient

Ambient 03 - Ambient

Titel: Ambient 03 - Ambient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Womack
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geschafft hatten.
    »Dein Kopf besser?« fragte sie halb flüsternd. Ich langte hinauf und zog ihren Pullover vom Kopf. Dann betastete ich vorsichtig meinen Schädel und fühlte unter der durchweichten Mullbinde eine riesige schmerzende Wunde.
    »Scheint so«, sagte ich.
    Wir blieben mehrere Minuten still. Obwohl ich erschöpft war und jeder Knochen schmerzte, wollte der Schlaf sich nicht einstellen. Ich blieb am Fenster.
    »Woran denkst du?« fragte sie.
    »An früher. Ich hatte die Gewohnheit, die ganze Zeit am Fenster zu sitzen und hinauszustarren, genauso wie jetzt«, sagte ich. »In meiner Jugend wohnten wir am Riverside Drive, Ecke 79. Das Haus gehörte Vater. Enid und ich hatten jeder ein großes Kinderzimmer. Ich hörte Radio oder las. Enid brachte ihre Freunde …«
    »Freunde?«
    »Damals hatte sie welche«, sagte ich. »Aus anderen Schulen. Sie besuchte Brearley. Jedenfalls gingen meine Fenster auf den Hudson hinaus, und man sah den Park, und den Fluß und Jersey. Es war schön, den Wechsel der Jahreszeiten zu beobachten. Im November wechselten die Bäume alle plötzlich die Farbe. Zuerst kamen die schweren Regengüsse, und die Blätter fielen ab. Dann, eines Morgens, Ende April oder Anfang Mai, wachte man auf und sah, daß über Nacht neue Blätter aus den Knospen gekommen waren. Einen Tag grau, und am nächsten grün. Ich saß stundenlang am Fenster, wenn ich konnte, schaute hinaus und dachte darüber nach wie alles andere sein mochte. Was ich eines Tages tun würde. Wohin ich gehen wollte.
    Als Mutter starb, blieb ich noch mehr in meinem Zimmer, dann, nicht lange danach, änderte sich alles. Es geschah so schnell – natürlich war ich so jung, daß ich in meinen Träumen gelebt und auf nichts geachtet hatte, was vorging, und selbst wenn ich darauf geachtet hätte, wäre es mir unverständlich geblieben. Heute kommt es mir vor, als ob an einem Montag alles fein und in Ordnung gewesen wäre, und am nächsten waren wir schon unten an der Avenue C. Während der ersten Woche dort unten hatten wir unseren ersten Einbruch. Sie holten mein Stereogerät, den Fernseher. Wir hatten kein Geld mehr, sagte Vater, und konnten keine neuen Geräte bekommen. Ich erinnere mich, daß ich nicht wirklich verstehen konnte, warum, denn bis dahin hatte es immer den Anschein gehabt, als lebten wir im Überfluß.
    Eine Woche später brach wieder eine Bande ein, als Enid und ich allein zu Hause waren – die Schulen waren noch geschlossen. Enid stieß mich in unsere alte Spielzeugtruhe und schärfte mir ein, nicht herauszukommen und mich mucksmäuschenstill zu verhalten als wir sie die Wohnungstür aufbrechen hörten. Es waren drei, sagte sie später, und ich hörte ihre Schreie, als die Kerle sie immer wieder vergewaltigten …Manchmal höre ich sie noch jetzt in der Nacht schreien, und dann wache ich auf, und sie liegt da, sicher und tief im Schlaf.
    »Als sie endlich gegangen waren, trocknete ich Enid ab und verband sie, und dann kam Vater nach Haus. Er ging in die Küche und schloß die Tür und kam lange nicht heraus. Enid und ich besprachen uns. Wir beschlossen, daß wir zusammenstehen und sie alle fertigmachen würden, wenn sie noch einmal kämen.
    Wir gingen aus und vertauschten irgendwelche Dinge, die wir hatten, für einen Vorschlaghammer und ein paar Ketten. Wir gingen nach Haus und übten eine Weile mit den Sachen, wobei einiges in unserem Raum zu Bruch ging. Ich glaube, Vater war unterwegs und versuchte Lebensmittel zu bekommen. Tatsächlich kamen am nächsten Abend ein paar von den Kerlen wieder zu Besuch. Wir waren bereit. Dieses erste Mal übertrieben wir ein bißchen, aber wir hatten sie überrumpelt, und wenn man einmal angefangen hat, ist es schwierig, aufzuhören. Vater kam zurück, als wir noch dabei waren, ihnen die verdiente Abreibung zu geben. Er sagte nichts. Nicht lange danach ging er eines Abends fort und verschwand …
    Ich weiß nicht, Avalon. Es ist seltsam. Als ich jung war, dachte ich, es sei alles bloß wie eine Art Spiel, und dann, erst viel später, wurde mir klar, daß ich in diesem Spiel nie die Würfel in die Hand bekam. Ich glaube, seit damals habe ich versucht, selbst an die Reihe zu kommen.
    Ich wollte nie sehr viel, ich glaube nicht. Nur etwas anderes, eine Chance. So etwas. Es scheint einfach nicht mehr richtig zu sein. Es ist alles falsch. Ich weiß nicht, ob es jemals wieder richtig sein wird. Was meinst du?«
    Das Heimweh hatte meine Anspannung gelöst wie sonst nichts. Ich fühlte

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