Ambra
Uferschlamm weht heran. Legt man sein Ohr gegen den Spalt, zu dem sich das Fenster öffnen lässt, hört man das Rauschen der Stadt.
Vor ein paar Minuten hat jemand geklingelt, Bronka hat nicht aufgemacht. Unten vor der Haustür parkt eine Streife. Irgendwie müssen die Polizisten ins Treppenhaus gekommen sein, denn jetzt klingelt es an der Wohnungstür. Ich höre, wie Bronka auf Zehenspitzen durch den Flur schleicht und in der Mitte stehen bleibt. Es klopft an der Tür, erst zögerlich, dann kräftig. Nichts geschieht. Nach ein paar Minuten gehen die Polizisten die Treppe wieder hinunter und fahren in ihrem Auto davon.Ich setze mich auf mein Bett und betrachte ratlos den Stapel Papier, der auf Bartosz’ schmalem Schreibtisch liegt. Dann höre ich, wie die Riegel, die meine Tür sicher verschlossen halten, zur Seite geschoben werden. Quietschend öffnet sich die Tür, Bronka tritt ein.
Sie sind weg, sagt sie, und ich antworte: Ich weiß. Dann reiche ich ihr die letzten Zettel, und sie nickt kurz, bevor sie sie in ihre Schürze steckt. Kurz bevor sie geht, blicke ich sie an, aber was ich sehe, ist nicht ein verweintes und aufgedunsenes Gesicht, sondern eine kaschubische Wiese, auf der ein paar Menschen sitzen und lachen, es ist eine Familie, die gemeinsam grillt; ich sehe Kastanienbäume und ein paar Fasane, die über die Felder staksen, vor allem aber sehe ich die Familie, man sitzt nah beisammen, man hat sich gern.
Plötzlich wird mir schlecht, ich bekomme keine Luft mehr, die Kette schnürt mir den Atem ab. Bronka verlässt das Zimmer, erneut ertönt das Knirschen der Riegel, die zurück an ihren Platz geschoben werden. Ein leiser Kopfschmerz hat sich in meinen Schläfen eingenistet. Ich stecke meine Hände in die Hosentaschen und lehne mich zurück. In meiner rechten Tasche bemerke ich einen kleinen Gegenstand und ziehe ihn heraus: ein moosgrünes Feuerzeug. Es liegt leicht in meiner Hand, zu leicht, als sei es bereits leer, sinnlos, zu nichts mehr zu gebrauchen. Doch dann lasse ich meinen Daumen über das Rad fahren, eine helle Flamme züngelt empor. Ich spüre ihre Wärme an meinem Gesicht, dann erlischt sie wieder. Fast wie Weihrauch. Ohne nachzudenken löse ich den Bernstein von meinem Hals. Eine alte Melodie klingt in meinen Ohren: Bernstein, Brennstein, alles muss versteckt sein! Eins, zwei, drei, vier, fünf …
Informationen zum Buch
Als ihr Vater stirbt, erbt Kinga eine Wohnung in einer fernen Stadt am Meer. Und einen Bernstein, in dem eine Spinne gefangen ist. Kein totes Insekt ist das, sondern eine überaus lebhafte Zeugin einer ungewöhnlichen Familiengeschichte. – Nach ihrem vielfach ausgezeichneten Debüt „Katzenberge“ schreibt Sabrina Janesch die Chronik einer deutsch-polnischen Familie, die vom stetigen Wandel und einer dunklen Gabe geprägt ist. Fünf Jahrzehnte nach der „Blechtrommel“ porträtiert sie eine Stadt, in die die rätselhafte Geschichte der Myszas eingeschlossen ist wie in einen Bernstein.
"Denn in dieser Stadt hat jeder ein Geheimnis und jeder ein Schweigen, das er darüber legt."
Es ist Herbst, als Kinga Mischa in der fernen Stadt am Meer eintrifft. Der Wind rast durch die Backsteinfluchten und kündet von einem turbulenten Jahr. Nur ein Bernstein, in dem eine Spinne gefangen ist, erinnert die junge Frau an ihren verstorbenen Vater. Noch ahnt sie nur, dass der Träger des Steins nicht bloß das Schmuckstück, sondern auch eine seherische Gabe geerbt hat: eine faszinierende wie dunkle Fähigkeit, die für Kinga zunehmend zur Qual wird. In der Stadt trifft sie auf ihre polnische Verwandtschaft. Die Familie Mysza arrangiert sich trotz aller Konflikte mit ihrem Zuwachs, bis plötzlich zwei Menschen verschwinden, die Kinga sehr nahe standen: die schöne Renia und der kriegsmüde Bartosz. Plötzlich steht Kinga im Verdacht, ihre Kräfte auf grausame Art angewandt zu haben. – Eine zauberhafte Geschichte, die von einer Spinne, einem Stadtschreiber und einer jungen Deutschpolin widerstreitend erzählt wird – mit viel Poesie, Raffinesse und Wärme. Ein Roman über die seelischen Verletzungen einer Familie, die mit der schmerzvollen Geschichte einer ungewöhnlichen Stadt korrespondieren.
„Sabrina Janesch demonstriert eindrucksvoll, wie das Erzählen sich wieder neu als eine produktive Form des Erinnerns behaupten kann.“ FAZ
„Sabrina Janesch erzählt mit hoher sprachlicher Sensibilität und poetischer Dichte.“ Hans-Ulrich Treichel
„Ihr
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