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Ambra

Ambra

Titel: Ambra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabrina Janesch
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und meine Familie. Und ich könne doch nichts erfinden, wo nichts gewesen sei! Sicher, ich bin den beiden begegnet, nach dem Törn, aber das war ein Zufall, versichere ich ihr, unsere Wege hatten sich gekreuzt, das war alles, und dann war ich ihnen ein Stückchen gefolgt, und dann waren sie an der Stelle angekommen, unten, bei den Bastionen, und …
    Hör auf damit, sagt Bronka. Ihre Stimme klingt jetzt etwas fester.
    Hundertmal habe ich das jetzt schon gehört, deswegen habe ich dich nicht hierhergebracht. Ich will alles wissen, jedes Detail, vom Anfang bis zum Ende. Wenn du Schwierigkeiten mit dem Gedächtnis hast, bitte schön. Hier sind zwei Hefte und ein Stift, da kannst du alles festhalten. Jedes Heft hat mehr als hundert Seiten.
    Mehr als hundert Seiten. Mein Kopf schmerzt von Bronkas lauter, aufdringlicher Stimme. Draußen, vor dem Fenster, höre ich Stimmen, ein Hund bellt, kurz erwäge ich, laut um Hilfe zu schreien, dann komme ich mir lächerlich vor und lasse die Stirn in meine Hände sinken. Bronka steht vor mir, die Arme in die Seiten gestemmt, sie riecht nach Schweiß und dem billigen Puder, den sie mehrmals pro Tag auf ihrem Gesicht und ihrem Ausschnitt verteilt. Ihre schlaffen Wangen zittern, sie wartet darauf, dass ich etwas sage, dass ich endlich ihre albernen, mit Blümchen und Marienkäfern verzierten Hefte in die Hand nehme. Entschlossen hält sie siemir vor die Nase und sagt, ich solle mich ruhig an die Arbeit machen, der Kröger nämlich habe auch schon begonnen und sei bestimmt nicht so zögerlich wie ich, immerhin sei der Schriftsteller und habe alles genauestens mitbekommen.
    Der Kröger hat
was
?, frage ich, und zum ersten Mal gleitet so etwas wie ein Lächeln über Bronkas Gesicht. Ja, das habe sie sich gedacht, dass mich das erschrecken würde, aber an sich sei das doch eine feine Sache. Gestern Abend sei er mit einem Blumenstrauß vorbeigekommen, sehr freundlich und mitfühlend sei er gewesen, und kurz bevor er gegangen sei, habe er gesagt, man müsse alles genau festhalten, und dass ich mich sträuben würde, das habe er auch vorausgesehen. In Krögers Kladde stehe alles, was relevant sei, Informationen über alle Beteiligten, Lagepläne, Zeitläufe, sogar Skizzen und Stammbäume, er habe es ihr ja gezeigt.
    Wenigstens einen gebe es also, der ihr behilflich sein wolle, nicht so wie ich oder meine Mitbewohnerin Albina. Kein Kommentar sei aus der herauszubekommen, geschweige denn irgendeine Information zu dem, was in den Tagen vor Bartosz’ Verschwinden geschehen sei. Wer bei uns in der Wohnung ein und aus gegangen sei, was wir getrieben hätten. In Wirklichkeit, sagt Bronka, steckten wir doch alle unter einer Decke. Auch, dass Albina kein Wort über die Geschehnisse verlieren würde, habe Kröger vorausgesehen.
    Ich bin mir sicher, Bronka hat längst mit der Polizei gesprochen, wahrscheinlich schon am Tag, nachdem Bartosz verschwunden ist. Das abfällige Schnaufen des Polizisten kann ich mir gut vorstellen, vielleicht hat er sie sogar ausgelacht und gesagt, dass es nicht strafbar sei, sich länger als 24 Stunden nicht bei seiner Mutter zumelden. Wenn es das wäre, müsste man ja die halbe Nation als vermisst erklären.
    Beim Hinausgehen legt Bronka die Hefte auf den Schreibtisch, auf die Tastatur des Computers. Ich höre, wie sich der Schlüssel in der Tür herumdreht, dann werden die Riegel vorgeschoben.
    Der Kugelschreiber ist leicht und transparent, er kratzt, als ich ihn auf dem Papier aufsetze, und hinterlässt nicht die geringste Spur, so wird das nichts. Wo anfangen? Wenn ich die Wahrheit sagen soll, wird es länger dauern, als Bronka sich vorstellen kann, ich werde sie etwas hinhalten müssen, um Zeit zu gewinnen, ich muss mich richtig erinnern, an jedes Detail des vergangenen Jahres, mich erinnern an alles, was ich sah, was ich hörte und was ich, sagen wir: bemerkte, und worum es sich auch immer dabei handelt, ich werde es einfügen, der Vollständigkeit halber.
    Ich recke den Hals nach vorne, schüttle den Kopf, und aus dem Ausschnitt meiner Bluse rutscht der Anhänger heraus, der dicke, honigfarbene Bernstein. Milchige Schwaden ziehen sich hindurch, und in seiner Mitte liegt deutlich sichtbar der stecknadelkopfgroße Punkt mit den kleinen Beinchen. Warm liegt der Stein in meiner Hand. Ich stehe auf und klopfe gegen die Tür, schlage gegen das Holz, aber nichts geschieht, außer dass sich nach ein paar Minuten der Schlüssel im Schloss bewegt und Bronka in der Tür steht:

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