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Amelia Peabody 04: Im Tal der Sphinx

Titel: Amelia Peabody 04: Im Tal der Sphinx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Peters
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und die moralische Verantwortung.
    Da ich Emerson gegenüber den Einsturz der Nebenpyramide noch nicht erwähnt hatte, hatte er keine Vorstellung, wo wir zuerst suchen sollten. Als ich auf der Bildfläche erschien, rannte er wie ein Spürhund auf einer Fährte herum und störte die Abendstille durch sein überlautes Wiederholen von Ramses’ Namen.
    »Sei einen Augenblick still«, bat ich ihn. »Wie willst du seine Antwort überhaupt hören, wenn du ständig herumbrüllst?«
    Emerson nickte. Dann stürzte er sich wie ein Tiger auf den armen Abdullah und packte ihn am Kragen seines Gewandes. »Aus welcher Richtung kamen die Schreie, die ihr gehört habt?«
    Abdullah fuchtelte hilflos mit den Armen in der Luft herum und rollte die Augen, Sprechen erschien ihm unmöglich, da sein Kragen ihm beinahe die Kehle zuschnürte.
    »Verzeih mir, bitte, Emerson, aber das war eine dumme Frage«, sagte ich. »Du weißt doch, wie schwierig es hier in dieser öden Gegend ist, einen schwachen, unterdrückten Schrei auszuloten. Ich glaube, ich habe eine brauchbarere Information für dich, wenn du nur endlich einmal still wärst und mir zuhörtest! Schau einmal dorthin, Emerson. Sieh dir die kleine Pyramide an.«
    Sein geschultes Auge brauchte nur einen Blick. Voller Entsetzen sank seine Hand kraftlos von der Kehle unseres geschätzten Rai. Sein Blick wanderte mit einer Mischung aus Angst und Entschlossenheit über die erst vor kurzem eingestürzten Trümmer am Fuß des kleinen Bauwerks. Niemand war sich der Gefahren, die ein unvorsichtiges Vorgehen auf diese instabilen Massen auslösen würde, so bewußt wie er.
    Der junge Selim stürzte sich jedoch mit einem herzzerreißenden Schrei auf das Geröll und begann fieberhaft zu graben. Emerson wich dem auf ihn niederprasselnden Steinschlag geschickt aus und packte Selim am Kragen. »So geht das nicht, mein Junge«, sagte er in duldsamem Ton. »Wenn du nicht vorsichtig genug bist, fällt dir letztlich der ganze Haufen auf den Kopf.«
    Im Gegensatz zu der landläufig vertretenen Meinung sind die Araber ein sehr weichherziges Volk, das sich nicht schämt, seine Gefühle offen zu zeigen. Über Selims Gesicht strömten Tränen, die sich mit dem Sand zu einer gräßlichen Schmutzmaske vermischten. Ich klopfte ihm auf die Schulter und bot ihm mein Taschentuch an. »Ich glaube nicht, daß er da unten ist, Selim«, sagte ich. »Emerson, ruf noch mal. Nur einmal, mein Lieber, und dann warte auf eine Antwort.«
    Sobald das Echo von Emersons quälendem Schrei verhallt war, erklang eine Antwort – hohl und schwach und sehr weit weg –, die abergläubische Zeitgenossen fälschlicherweise recht leicht für das Wehklagen einer verlorenen Seele hätten halten können. Abdullah war starr vor Entsetzen. »Das war es, oh, Vater der Flüche. Das war die Stimme, die wir gehört haben!«
    »Ramses«, sagte ich seufzend. »Er hat den Eingang gefunden, verflucht – ich meine, Gott sei Dank. Emerson, siehst du den Schatten etwa drei Meter oberhalb des Gerölls, ziemlich in der Mitte?«
    Eine kurze und – von meiner Seite – sachlich gehaltene Diskussion führte zu dem Schluß, daß die Öffnung tatsächlich der lange verborgene Eingang sein könnte und daß es uns unter Berücksichtigung erheblicher Vorsichtsmaßnahmen möglich wäre, dorthin zu gelangen. Emerson unterbrach mich dauernd mit Zwischenrufen von »Ramses!«, und Ramses antwortete ständig in diesem unheimlichen Klageton. Schließlich setzte ich dieser Vorgehensweise ein Ende, indem ich Emerson daran erinnerte, daß man zum Schreien Sauerstoff benötigte, den Ramses möglicherweise nur begrenzt zur Verfügung hatte, wenn er, was nur vermutet werden konnte, eingesperrt war und sich nicht ohne Hilfe zu befreien vermochte. Emerson stimmte mir unumwunden zu, und ich muß sagen, daß ich die Zusammenarbeit mit ihm als wesentlich einfacher empfand, wenn er nicht brüllte.
    Wie die größeren Steinpyramiden war dieses kleinere Gegenstück aus Steinquadern errichtet worden, die sich wie ein riesiges, vierseitiges Treppenhaus erhoben. Allerdings war diese Bauweise – der Beweis lag eindeutig vor uns – weitaus weniger stabil als die der benachbarten Pyramide. Man mußte extrem vorsichtig hinaufklettern und jeden Felsblock prüfen, bevor man sein Gewicht darauf verlagerte. Emerson bestand darauf voranzugehen. Wie er korrekt (ich meinte jedoch, auch frustriert) betonte, würde ich schon merken, wann ein Stein nicht sicher genug wäre, nämlich dann, wenn er

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