Amelia Peabody 09: Ein Rätsel für Ramses
Finger an die Lippen und lächelte sie an. Auch wenn es dem achtlosen Ehemann vielleicht entgangen war, so war mir klar, daß die beiden eine heimliche Verabredung getroffen oder bestätigt hatten.
»Man kann es den Damen kaum übelnehmen, daß sie einen solch muskulösen, gutgebauten Kerl einem durchschnittlichen englischen Ehemann vorziehen«, sagte Emerson, der diesen Vorfall ebenfalls beobachtet hatte. »Dieser Bursche macht ganz den Eindruck eines wandelnden Obelisken. Stell dir nur mal vor, wie der im …«
»Emerson!« entfuhr es mir.
Emerson bedachte mich mit einem breiten, unwiderstehlichen Grinsen und einem Blick, der mich daran erinnerte – falls das überhaupt der Erinnerung bedurfte –, daß er in keinster Weise zu den durchschnittlichen englischen Ehemännern zählt. Emerson übertrifft sich bei seiner selbstgewählten Berufung als Ägyptologe und auch in seiner Rolle als liebender Gatte. Für meine verliebten Augen sah er immer noch exakt so aus wie an jenem längst vergangenen Tag, als ich ihn in einem Grab bei Amarna kennenlernte – dichtes, dunkles Haar, strahlendblaue Augen, eine muskulöse, stattliche Erscheinung wie die des Dragomanen. Nur den Bart hatte er sich auf mein Drängen hin abrasiert, was sein energisches Kinn und das Grübchen an selbigem zum Vorschein gebracht hatte: Charakteristika, die seinem ansprechenden Äußeren zusätzlichen Charme verleihen. Sein Lächeln und sein intensiver azurblauer Blick konnten mich auch diesmal besänftigen; doch das Thema zählte nicht zu denen, die er in Gegenwart unserer Adoptivtochter vertiefen sollte (auch wenn ich selbst davon angefangen hatte).
»Sie hat einen guten Geschmack, Tante Amelia«, meinte Nefret. »Er ist der bestaussehende von allen, findest du nicht?«
Als ich sie ansah, hatte ich plötzlich irgendwie Verständnis für die entsetzliche Sitte der Moslems, Frauen von Kopf bis Fuß in schwarze Gewänder zu hüllen. Sie war ein bemerkenswert hübsches Mädchen mit rotgoldenem Haar und Augen in der Farbe von Vergißmeinnicht. Wenn sie ein sittsam aufgezogenes englisches junges Mädchen gewesen wäre, hätte ich mich mit den unvermeidlichen Konsequenzen ihres Aussehens abfinden können, aber Nefret hatte die ersten dreizehn Jahre ihres Lebens in einer entlegenen Oase der nubischen Wüste verbracht, wo sie zwangsläufig teilweise eigenartige Vorstellungen übernommen hatte. Wir hatten sie gerettet, uns um ihr Erbe gekümmert und liebten sie wie eine Tochter. Ich wäre auch nicht weiter auf ihre eigenartigen Vorstellungen eingegangen, wenn sie sie nicht so öffentlich kundgetan hätte.
»Ja«, fuhr sie nachdenklich fort, »man kann den Reiz dieser Burschen schon verstehen, sie wirken so umwerfend und romantisch in ihren Gewändern und Turbanen – besonders auf gut erzogene zurückhaltende Damen, die ein geordnetes, langweiliges Dasein gewohnt sind.«
Emerson hört nur selten zu, wenn es um irgend etwas geht, das nicht mit seinem Beruf und seiner größten Leidenschaft, der Ägyptologie, in Verbindung steht. Gewisse Erfahrungen aus der Vergangenheit hatten ihn jedoch gelehrt, daß er Nefrets Äußerungen besser Beachtung schenkte.
»Verfluchte Romantik«, knurrte er und nahm seine Pfeife aus dem Mund. »Sie sind nur an dem Geld und … an anderen Gefälligkeiten interessiert, die ihnen diese dummen Weiber bieten. Du hast Besseres zu tun, als dich für solche Leute zu interessieren, Nefret. Ich hoffe, du empfindest dein Leben nicht als zu geordnet und langweilig?«
»Mit dir und Tante Amelia?« Lachend warf sie in einem Anfall von Übermut ihre Arme in die Luft und reckte ihr Gesicht der Sonne entgegen. »Es ist einfach wunderbar! Jeden Winter in Ägypten Ausgrabungen vorzunehmen, neue Dinge zu lernen, und das immer in der Gesellschaft derjenigen, die ich am meisten mag – dich und Tante Amelia, Ramses und David, die Katze Bastet und …«
»Wo, zum Teufel, ist er eigentlich?« Emerson schaute stirnrunzelnd auf seine Taschenuhr. »Er sollte schon seit zwei Stunden hier sein.«
Was er sagte, bezog sich nicht auf die Katze Bastet, sondern auf unseren Sohn Ramses, den er seit sechs Monaten nicht gesehen hatte. Gegen Ende der Ausgrabungssaison im vergangenen Jahr hatte ich dem Drängen unseres Freundes Scheich Mohammed nachgegeben. »Laßt ihn bei mir bleiben«, hatte der naive alte Mann beharrt. »Ich werde ihm Reiten und Schießen beibringen und ihn lehren, Menschen zu führen.«
Das Vorgehen empfand ich als etwas ungewöhnlich
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