Amelia Peabody 14: Die goldene Göttin
halten Sie sofort an und kommen Sie zurück, falls die Passage zu schmal wird oder die Decke instabil aussieht oder –«
»Aber sicher, Amelia. Lass mich hinunter, Daoud.«
»Du hättest nicht billigen dürfen, dass er als Erster geht, Emerson«, schalt ich, als Cyrus’ Gestalt in der Felsspalte verschwand.
»Meine liebe Peabody, wie könnte ich ihm den Augenblick nehmen, auf den er sein ganzes Leben lang gewartet hat? Wenn er jetzt sterben würde, dann würde er glücklich sterben. Das«, fuhr Emerson rasch fort, »war nur so eine Redensart. Es wird schon nichts passieren. Aber – äh – nun ja, vielleicht sollte ich ihm folgen.«
»Aber nicht mit deiner Armverletzung, Emerson!«
»Sie werden mich lediglich absenken müssen, mehr nicht«, entgegnete Emerson, sein Kinn trotzig vorgeschoben, sodass jeder Widerspruch zwecklos schien. »Wir haben doch noch ein zweites Seil mit, oder?«
»Es wird sehr eng werden«, warnte Bertie. »Dort unten ist eine unebene Plattform, kaum zwei Quadratmeter groß, mit dem Durchgang, der im rechten Winkel in den Stollen führt. Er ist teilweise gefüllt mit –«
»Platz satt«, sagte Emerson, schlang ein Ende des Taus um Selim und versuchte das andere um seine Taille zu knoten.
Ich seufzte: »Verflixt und zugenäht!«, und band ihm den Knoten. Dann legte ich mich flach auf den Boden und spähte in den Spalt, als Emerson hinabgelassen wurde.
Da sowohl Selim als auch Ramses das Seil sicherten, hatte ich keinerlei Bedenken, dass Emerson abstürzen könnte. Ich befürchtete eher, dass er in den engen Gang kriechen und dort stecken bleiben würde wie ein Korken in einer Flasche. Es war sehr dunkel dort unten, einmal abgesehen von dem schwachen Lichtkegel von Emersons Taschenlampe. Ich konnte nur wenig erkennen, und mein Gehör war mir auch keine große Hilfe, wegen des Nachhalls, der jedes Geräusch verzerrte. Das Seil erschlaffte und Emerson brüllte irgendetwas, worauf ich einen unterdrückten Schrei ausstieß.
»Es ist alles in Ordnung, Mutter«, beruhigte Ramses. »Er hat die Plattform erreicht.«
»Er wird nicht durch den Gang passen«, seufzte ich. »Er ist doppelt so breit wie Jamil.«
»Er wird es schaffen«, sagte Ramses und fuhr sich mit dem Hemdsärmel über sein verschwitztes Gesicht. »Und wenn er das Geröll mit bloßen Händen wegschaufeln muss. Mit einer bloßen Hand.«
Ich konnte hören, dass er exakt das tat. Loses Gestein prasselte vom Rand der Felsspalte den Abhang hinunter. Irgendwann wurde es still, bis Cyrus’ Rufen uns alle aufschreckte. Daoud packte das Seil und zog mit aller Kraft daran. Sobald Cyrus’ Kopf auftauchte, bückten wir uns und zerrten ihn heraus.
»Und?«, kreischte ich.
Cyrus schüttelte den Kopf. Seine Lippen bewegten sich, aber es kam kein Laut. Tränen liefen über sein Gesicht.
»Staub«, sagte mein praktisch veranlagter Sohn. Er reichte Cyrus die Wasserflasche und schoss gleich darauf zu dem anderen Seil, da es sich straffte. Mit Daouds Hilfe bugsierten sie Emerson rasch nach oben; er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, das Seil um seinen Körper zu schlingen, sondern hielt es mit einer Hand fest. Wir zerrten ihn über den Rand, und er stolperte auf die Füße, blinzelte aus blutunterlaufenen Augen.
»Da unten sind vier Sarkophage«, keuchte er. »Vier. Es gibt alles vier Mal, die Grabkammer platzt aus allen Nähten: vier Sätze Opfergefäße, vier Truhen mit Goldintarsien, vier Begräbnispapyri, vierhundert Uschebtis, viertausend –«
Nervös trat Cyrus von einem Fuß auf den anderen und rieb sich die Hände. »Die Gottesgemahlinnen«, ereiferte er sich. »Vier! Ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Tag noch erleben würde! Wenn ich heute Nacht tot umfiele, wäre ich der glücklichste Mann auf Erden.«
»Nein, das wären Sie nicht.« Ich packte ihn. »Sie wären tot. Und das werden Sie auch sein, wenn Sie von diesem Felsvorsprung stürzen.«
Ich hätte Emerson gern nach Hause gebracht; er hatte ein weiteres Hemd ruiniert, weil er sich durch diese engen Windungen gequetscht hatte, überdies hatte er Beulen am Kopf, seine Hände waren rohes Fleisch und der Gipsverband aufgeplatzt. Cyrus sah kaum besser aus, aber beide hörten mir nicht zu; sie schwelgten in ihrer grenzenlosen Begeisterung und schüttelten einander die Hände. Ich wünschte beide zum Teufel (auch das überhörten sie) und entschied, dass ich ein Recht darauf hätte, meine eigene Neugier zu befriedigen.
Man ließ uns abwechselnd hinunter, aus
Weitere Kostenlose Bücher