Amelie und die Liebe unterm Regenschirm
lachenden Stimme: »Es war mir ein Vergnügen.«
In Sturm und Regen hektisch pirouettierend, versuchte Amelie, sich und den Schirm in eine Position zu bringen, die es erlaubte, das Gesicht des Mannes zu sehen. Vergebens. Sie sah ihn nur mehr von hinten. Groß, kräftig, gebeugte Schultern, dunkles regennasses Haar, das bis in den Nacken reichte.
Weshalb sie im Café Bräunerhof statt wie geplant im Dorotheum gelandet war, hätte sie nicht zu sagen vermocht. Wie eine Somnambule musste sie nach dem Zusammenprall hier eingekehrt sein, Platz genommen und Tee bestellt haben, denn Letzterer stand vor ihr und hatte längst zu dampfen aufgehört.
Langsam fand sie wieder zu sich. Ihre Zehen in den Gummistiefeln waren klamm, ihre Wangen glühten, und ihr Herz klopfte dumpf wie eine indianische Kriegstrommel. Ein Körpergefühl, das ihr bis dato unbekannt gewesen war. Von ihrem aufs Höchste erregten Gemüt erst gar nicht zu reden.
Es lag an dem Mann ohne Gesicht. Dem Zusammenprall mit ihm. Den wenigen Augenblicken überwältigenden Lebendigseins, die sie in seiner Gegenwart verspürt hatte.
Sie schloss die Augen und versuchte, das Geschehene zurückzuholen: die Nässe in ihrem Gesicht, der Sturm, der an ihr zerrt, der Kampf mit dem verflixten Schirm, der unerwartete Zusammenstoß. Der breite Brustkorb, der sich anfühlt wie eine federnde Wand. Die beiden Arme die sich um sie schließen wie ein Wall. Nicht beengend. Beschützend, sichernd, wie ein Rettungsring. Der Geruch von feuchtem Textil und durchlüfteter Haut und frischem Rasierwasser. Und dann die Stimme. Gelassen trotz Sauwetter und schusselnder Weibsperson, die den Eigner der Stimme rammt. Als könnte ihn, den Eigner, nichts erschüttern. Als hätte er alle Zeit der Welt. Eine Stimme, die lacht. Über sie, über Amelie, aber nicht spöttisch, sondern voll Wohlwollen. Eine erotische Stimme. Wie Seeufer und Julisonne und Liebe am Nachmittag.
Amelie öffnete die Augen, schüttelte heftig den Kopf und gab, weil in Gedanken versunken, zum dritten Mal Zucker in den erkalteten Tee. Die Galoschen fielen ihr ein. Seltsame Dinger. Kennt man nur mehr vom Hörensagen. Wer trägt denn heutzutage noch Galoschen. Auffallend jedenfalls, rabenschwarz, giftgrün eingerandelt.
Sie schloss die Augen von neuem und versuchte, sich das Bild des entschwindenden Unbekannten zu vergegenwärtigen: die Rückenansicht. Der flatternde Regenmantel. Das lange, dunkle, nasse Haar. Als er das Bundeskanzleramt betritt, hebt der Wachbeamte grüßend die Hand an die Kappe, der Portier reißt einen Diener. Der Mann wendet dem Portier sein Gesicht zu, aber die Entfernung ist zu groß und die Sicht zu schlecht, als dass Amelie seine Züge ausmachen könnte.
Jäh entschlossen schob Amelie die Teetasse von sich und winkte dem Ober. Ich muss wissen, wie er aussieht, dachte sie, ich will ihn wiedersehen. In einem Haus wie dem Kanzleramt wird man doch herauskriegen können, wer er ist. Ich kann ihn fast beschreiben.
Plötzlich stutzte sie. Etwas war da noch an ihm gewesen, das ihr augenblicklich nicht einfallen wollte. Etwas, das wesentlich zur Erscheinung des Unbekannten gehörte. Noch einmal kniff sie die Augen zusammen, rief das Bild des sich entfernenden Mannes noch einmal ab, ließ beide Handflächen auf die kalte Marmortischplatte fallen, dass es klatschte, und sagte laut und triumphierend: »Jetzt weiß ich’s wieder: Er hinkt!«
Es lag an dem immer noch wolkenbruchartig niedergehenden Regen, dass sie nicht gleich zum Ballhausplatz ging, um nach dem Hinkenden mit den Galoschen zu forschen. Ein Versäumnis, das sie später bereuen sollte. Sie watete bloß um die Ecke ins Dorotheum, um Burgi Wechsler wie vereinbart zu treffen.
Die Spielzeugexpertin war eine kleine, blonde, hübsche Frau, deren Fachwissen vor allem in Bezug auf Puppen in einschlägigen Kreisen fast legendär war. Sie und Amelie standen seit etlichen Jahren beruflich in Verbindung und waren mit der Zeit Freundinnen geworden. Wäre Burgi nicht gewesen, hätte Amelie möglicherweise ihren Laden für altes Spielzeug niemals eröffnet. Ein Schritt, den Burgi übrigens nie restlos gutgeheißen hatte. Sie schätzte Amelie in erster Linie als Mensch, in zweiter Linie als Sachverständige, von der Geschäftsfrau Lenz hielt sie wenig. »Zu verträumt, zu verspielt, wenn die Familie nicht hinter ihr stünde, könnte sie sich den Laden nie leisten«, hatte sie einmal in Kollegenkreisen geäußert. Amelie hatte Wind von der Bemerkung bekommen
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