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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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würgte, bis er die Galle im Hals schmeckte, und immer noch konnte er sich kaum bewegen, ein unbezwingbarer Druck bohrte sich quer durch seinen Kopf, und er kauerte stundenlang da, so schien es ihm, hypnotisiert von einem langen Spuckefaden, der ihm beharrlich aus dem Mund hing.
    Als er wieder auf die Beine kam, hatte sich alles verändert. Die Schlucht war in Schatten getaucht, die Sonne hing in den Baumwipfeln, und dem unermüdlichen Geier am Himmel hatten sich zwei Artgenossen zugesellt. »Los doch, kommt und holt mich!« knurrte er, spuckte aus und zuckte dabei zusammen. »Genau das bin ich - ein jämmerlicher Kadaver, ein Stück Fleisch auf Beinen.« Aber Herr im Himmel, wie weh es tat! Er fuhr sich mit der Hand an die Wange, und die aufgeschürfte Haut dort war hart und verkrustet, als hätte man ihm ein altes Holzbrett an den Kopf genagelt. Was war ihm eigentlich passiert? Über die Straße war er gegangen, auf dem Rückweg von dem kleinen Supermarkt, wo er eingekauft hatte, nachdem die Arbeitsvermittlung zugemacht hatte, dem billigeren Supermarkt, der aber weiter weg war, und was tat es schon, daß er sich auf der anderen Straßenseite befand? Der alte Mann an der Kasse dort - er kam aus Italien und nannte sich einen paisano - sah einen nicht an, als wäre man Dreck, als wollte man etwas stehlen, als könnte man die Finger nicht von all den bunten Packungen mit diesem und jenem lassen, mit Schinken und Nachos und Shampoo und kleinen, in Plastik eingeschweißten grau-schwarzen Batterien. Dort hatte er eine große Flasche Orangenlimo gekauft und eine Packung Tortillas zu den gelben Bohnen, die im Topf angebrannt waren ... und was war dann gewesen? Er war über die Straße gegangen.
    Ja. Und dann hatte ihn dieser rosagesichtige gabacho umgefahren, mit seiner knallroten gabacho-Nase, auf der eine dieser kleinen Advokatenbrillen klemmte. So viel Stahl und Glas und Chrom, ein riesiger heißer Motor aus Eisen - wie ein Panzer war das Ding auf ihn zugerollt, und er hatte als einzigen Schutz sein Baumwollhemd, die dünne Hose und ein Paar ausgetretener huaraches. Er starrte benebelt um sich - auf das feine Geflecht des Unterholzes, auf die Vögel in den Zweigen und Baumwipfeln weiter unten und auf die Geier, die ihre zackige Signatur in den Himmel krakelten. América würde sich um ihn kümmern, sobald sie zurückkäme, sie würde ihm einen Tee aus Manzanitabeeren gegen den Schmerz kochen, die Wunden auswaschen, mitleidig mit der Zunge schnalzen und ihn so richtig umsorgen. Aber jetzt mußte er erst einmal den Pfad hinunter, und auf einmal spürte er ein Stechen in der Hüfte und im linken Knie, dort, wo seine Hose zerrissen war.
    Es tat weh. Jeder einzelne Schritt. Aber er dachte an die Büßer im Wallfahrtsort Chalma, die zwei Kilometer weit auf den Knien rutschten, bis ihre Knochen bloßlagen, und er ging weiter. Zweimal strauchelte er. Einmal fing er sich mit dem gesunden Arm ab, aber beim zweitenmal fiel er voll in den Staub; er konnte nicht mehr klar sehen, die ganze glühendheiße Welt war plötzlich kühl und dunkel, als wäre er auf dem Grund des Meeres. Dann hörte er eine Spottdrossel, einen Pfiff und einen Triller in der Leere, und es klang, als würden auch diese Töne im Sonnenlicht ertrinken, und dann träumte er.
    Seine Träume waren Wirklichkeit. Er schwebte nicht durch die Luft, sprach nicht mit dem Geist seiner toten Mutter oder bezwang seine Feinde - er saß fest auf der Müllhalde von Tijuana, den Maschendraht vor sich, América war speiübel, weil sie die gastro hatte, und er besaß keinen einzigen Cent mehr, nachdem die cholos und die coyotes ihn ausgenommen hatten. Holzplanken und Pappkartons über seinem Kopf. Der Gestank nach verbranntem Hundefleisch in der Luft. Zuunterst in der Hackordnung, sogar auf der Müllhalde. Das Leben ist arm hier, hatte ein alter Mann - ein Müllsucher - zu ihm gesagt. Ja, hatte er geantwortet, und er wiederholte es sich jetzt, die Worte auf seinen Lippen steckten irgendwo zwischen den zwei Welten, aber wenigstens habt ihr Müll.
    América fand ihn unten am Fuß des Pfades, in der Dämmerung lag er da wie ein Bündel Lumpen. Sie war fast dreizehn Kilometer zu Fuß gegangen, ans Ende des Cañons hinunter zur Schnellstraße am Ozean, wo der Bus nach Venice fuhr, zu einem Job als Näherin, aus dem aber nichts geworden war, und dann wieder zurück, und sie fühlte sich wie ein wandelnder Leichnam. Hatte zwei Dollar und zwanzig Cent für den Bus ausgegeben und nichts,

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