Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
was sie dafür herzeigen konnte. Im ersten Licht des Morgengrauens war sie die Küstenstraße entlanggegangen, und da hatte sie sich gut gefühlt, wie ein junges Mädchen - der salzige Geruch, die Jogger am Strand, die imposanten schlanken Millionärshäuser, die sich wie Pilze aus dem Sand erhoben -, aber die Adresse, die ihr diese Frau aus Guatemala gegeben hatte, war nichts wert gewesen. Den ganzen weiten Weg in die fremde Welt hinaus, in eine miese Gegend mit Betrunkenen auf der Straße, und dann war das Haus vernagelt, verlassen, kein Hintereingang, keine Nähmaschine, kein grimmiger Boß, der vor ihr stand und zusah, wie sie für drei Dollar fünfunddreißig die Stunde schwitzte, rein gar nichts. Sie überprüfte die Adresse zweimal, dreimal, ehe sie aufgab und wieder heimgehen wollte, doch da schien ihr, daß die Straßen in der Zwischenzeit ihren Verlauf geändert hatten, und ihr wurde klar, daß sie sich verirrt hatte.
    Gegen Mittag fühlte sie Panik in der Kehle aufsteigen. Zum erstenmal in vier Monaten, zum erstenmal, seitdem sie den Süden und ihr Dorf und alles verlassen hatten, was sie auf dieser Welt kannte, war sie von Cándido getrennt. Sie ging im Kreis, und alles wirkte fremd auf sie, auch noch als sie es schon zwei- oder dreimal gesehen hatte. Sie verstand die Sprache nicht. Schwarze spazierten ihr auf der Straße entgegen, Einkaufstüten aus Plastik in der Hand. Sie trat in Hundekot. Ein gabacho mit langen Haaren saß auf dem Gehsteig und bettelte um Kleingeld. Sein Anblick jagte ihr einen Heidenschreck ein: Wenn der in seinem eigenen Land betteln gehen mußte, welche Chance hatte sie dann? Doch sie hielt ihre sechs kleinen Silbermünzen fest, und irgendwann kam eine Frau, die chilango sprach, den Dialekt von Mexico City, und zeigte ihr den Weg zur Bushaltestelle.
    Dann mußte sie im trüben Licht des schwindenden Tages den Cañyon wieder hinaufmarschieren, während eine todbringende, zischende Kette von Autos an ihr vorbeiraste, und aus jedem starrte ein Augenpaar, das sie anbrüllte: Hau ab, hau ab hier und geh zurück, wo du herkommst! -  und wie lange noch, bis einer dieser Wagen staubwirbelnd vor ihr abbremste, ein Polizist ausstieg und ihre Papiere sehen wollte? Sie hastete weiter, den Kopf gesenkt, die Schultern vorgeschoben, und als der asphaltierte Streifen neben der Straße sich auf ein paar Zentimeter verjüngte, mußte sie über die Leitplanke klettern und sich durch das Gestrüpp kämpfen.
    In ihren Augen brannte der Schweiß. Bei jedem Schritt stachen sie Dornen und Kletten und die glatten, harten Dolche des Fuchsschwanzgrases. Wohin sie trat, sah sie nicht. Sie hatte Angst vor Schlangen und Spinnen und davor, sich in einem Loch den Fuß zu verrenken. Und dann schalteten die Autos die Scheinwerfer an, und sie war allein auf einer schrecklich lauten Bühne, für jeden sichtbar im Licht gebannt. Ihre Kleider waren schweißnaß, als endlich der Anfang des Pfades in Sicht kam, und sie rannte die letzten hundert Meter, rannte auf die Deckung des Unterholzes zu, gehetzt von den kalten Lichtstrahlen, und dann mußte sie sich im Gestrüpp niederkauern, um Atem zu schöpfen.
    Die Schatten wurden dunkler. Vögel riefen einander etwas zu. Die Autos schossen vorbei, keine drei Meter von ihr entfernt. Jederzeit konnte eines anhalten, jederzeit. Sie horchte auf die Autos und den eigenen keuchenden Atem, auf das Singen der Reifen und das metallische Heulen der Motoren, die gegen die Steigung ankämpften. So ging es lange Zeit, eine Ewigkeit, und am Himmel wurde es immer finsterer. Schließlich, als sie sicher war, daß ihr niemand folgte, machte sie sich an den Abstieg, ließ sich von den Bäumen und Büschen und dem warmen Atem der Nacht beschwichtigen, hatte jetzt Hunger - Heißhunger - und solchen Durst, daß sie das ganze Bachbett leertrinken würde, ganz egal, ob Cándido meinte, das Wasser sei nicht gesund.
    Zunächst besaß das Ding auf dem Pfad keinerlei Bedeutung für sie - eine Form, ein Gewebe aus Schatten, hell und dunkel -, dann war es ein Fels, ein Kleiderhaufen, und schließlich ein Mann, ihr Mann, der dort auf der Erde schlief. Als erstes glaubte sie, er sei betrunken - habe Arbeit gefunden und dann gezecht, kaltes Bier und Wein getrunken, während sie sich durch die sieben Kreise der Hölle gequält hatte -, und sie spürte Wut in sich aufsteigen. Kein Essen für sie - sie hatte seit Tagesanbruch nichts zu sich genommen, und da auch nur eine verbrannte Tortilla und ein Ei -,

Weitere Kostenlose Bücher