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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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nicht einmal etwas zu trinken, kein einziger Schluck Wasser. Wofür hielt er sie denn? Doch dann beugte sie sich hinunter und berührte ihn, und da wußte sie, daß sie in der schlimmsten Notlage ihres Lebens steckte.
    Es war ein kleines Feuer, fast nur Zweige, ein paar faustgroße Stücke, von weitem sicher nicht zu sehen. Cándido lag daneben auf einer Decke im Sand, und die Flammen waren wie eine Zaubervorstellung, sie hüpften und schnappten und zündeten winzige rote Raketen inmitten einer Rauchwolke. Er träumte noch immer, träumte mit offenen Augen, die Bilder mischten sich wie Spielkarten, bis er nicht mehr wußte, was Wirklichkeit war und was Traum. Im Augenblick durchlebte er nochmals die Vergangenheit, war ein kleiner Junge in Tepoztlán im Süden Mexikos, sein Vater hatte im Hühnerstall ein Opossum gefangen und erschlug es mit einem Stock - zack! - direkt auf den Kopf. Das Opossum fiel um wie ein leerer Sack und lag da, weiß im Gesicht und mit nackten Füßen und dem Schwanz einer riesigen Ratte, betäubt und zuckend. So fühlte er sich jetzt auch, genau wie dieses Opossum. Das Pochen in seinem Kopf hatte sich in die Brust ausgebreitet, in die Lenden, in alle Gliedmaßen - in jede gepeinigte Faser seines Körpers -, und er mußte die Augen schließen vor dem schmerzenden Brausen und Knistern des Feuers. Sie hatten das Opossum abgehäutet und in einem Eintopf mit Maisbrei und Zwiebeln verspeist. Er hatte den Geschmack noch immer im Gedächtnis, sogar hier im Norden, obwohl er lädiert war und blutete und das Feuer in seinen Ohren dröhnte - nach Ratte hatte es geschmeckt, nach nasser Ratte.
    América kochte etwas über dem Feuer. Brühe. Fleischbrühe. Sie hatte ihn auf die Decke gebettet und von ihm den zerknitterten Geldschein bekommen, den er auf die denkbar härteste Weise verdient hatte - auf eine Weise, die ihn umbringen könnte -, und sie war hinauf zu dem näher gelegenen Laden gegangen, der diesen mißtrauischen Chinesen oder Koreanern, oder was immer sie waren, gehörte, und sie hatte einen Suppenknochen mit etwas Rindfleisch daran gekauft, dazu eine große Plastikflasche mit Aspirin, Wundalkohol, eine Schachtel mit gabacho- farbenem Heftpflaster und, das Beste von allem, eine kleine Flasche Brandy, um die Schmerzen zu betäuben und die Träume in Schach zu halten.
    Es half nicht.
    Der Schmerz war wie das Zentrum des Feuers, er strahlte in alle Richtungen aus, und die Träume - also, im Moment sah er seine Mutter, die an irgend etwas gestorben war, keiner wußte, woran. Er war sechs Jahre alt und glaubte, er habe sie getötet - weil er nicht brav genug gewesen war, seine Ave Maria und Vaterunser nicht aufgesagt hatte, in der Kirche immer einschlief und nie bei der Hausarbeit half. In Tepoztlán gab es keine Kühlmöglichkeit, nichts zum Ausbluten und Hineinpumpen von Chemikalien, nur Fleisch, totes Fleisch. Wegen des Gestanks versiegelten sie den Sarg mit Glasscheiben. Er erinnerte sich an ihn, aufgebockt auf zwei Stühlen in der Mitte des Zimmers, riesengroß und häßlich, wie ein Schiff aus einem uralten Meer. Und er erinnerte sich auch, wie er bei ihr gewacht hatte, lange nachdem sein Vater und die Geschwister und Onkel und Tanten und alle compadres eingeschlafen waren, und wie er durch das Glas mit ihr gesprochen hatte. Ihr Gesicht war wie aus Stein gemeißelt. Sie trug ihr schönstes Kleid, das Kruzifix lag ihr schlaff auf dem Hals. Mamá, flüsterte er, nimm mich doch mit, ich will nicht hier bleiben ohne dich, ich möchte auch sterben und mit zu den Engeln gehen, und auf einmal blitzten ihn ihre toten Augen an, und ihre toten Lippen raunten: Geh zum Teufel, Sohn.
    »Kannst du das trinken?«
    América kniete neben ihm und hielt ihm einen alten Kaffee-Becher aus Styropor an den Mund. Ein starker Fleischgeruch stieg ihm in die Nase. Ihm wurde übel davon, und er schob ihre Hand weg.
    »Du brauchst einen Arzt. Dein Gesicht ... und das« - sie tupfte auf seine Hüfte, dann auf den Arm, eine sanfte Berührung, der Lumpen alkoholgetränkt, »und das.«
    Er brauchte keinen Arzt. Er brauchte sich ihnen nicht auszuliefern - die Knochen würden zusammenwachsen, die Wunden verheilen. Was sollte er denn sagen? Womit den Arzt bezahlen? Und wenn sie mit ihm fertig waren, würde der Mann von La Migra - der Einwanderungsbehörde - schon dastehen, mit seinem Clipboard und seinem Fragenkatalog. Nein, einen Arzt brauchte er nicht.
    Der Schein des Feuers erfaßte Américas Gesicht, und plötzlich sah sie

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