América
alt aus, älter als das Mädchen, das sie war, das Mädchen, das ihn in den Norden begleitet hatte, obwohl sie vorher nie weiter als ins Nachbardorf gekommen war, älter als seine Großmutter und ihre Großmutter und jede andere Frau, die je in diesem oder irgendeinem anderen Land gelebt hatte. »Du mußt zu einem Arzt gehen«, flüsterte sie, und das Feuer knackte, und die Sterne fauchten über dem Dach des Cañons. »Ich habe Angst.«
»Angst?« Er streichelte ihre Hand. »Wovor denn? Ich werde schon nicht sterben«, sagte er, doch während er das sagte, war er sich nicht mehr so sicher.
Am Morgen fühlte er sich schlechter - falls das möglich war. Er erwachte im Nebel zum Gezeter der Vögel und wußte nicht, wo er war. Er hatte keinerlei Erinnerung daran, was passiert war - gar nichts, nicht das kleinste Fünkchen -, er wußte nur, daß ihm alles weh tat. Wankend rappelte er sich von der feuchten Decke hoch und pinkelte einen dünnen Strahl gegen einen Stein, und auch das tat weh. Sein Gesicht fühlte sich verkrustet an. Sein Urin war rot. Er stand lange da, schüttelte seinen Schwanz und sah zu, wie die Blätter des Baums über ihm sich unmerklich aus dem Dunst schälten. Dann wurde ihm schwindlig, und er legte sich wieder auf die Decke im Sand.
Als er wieder aufwachte, war der Nebel verraucht, und die Sonne stand direkt im Zenit. Neben ihm war eine Frau mit schwarzen Augen, die in einem breiten Indiogesicht zerflossen, umrahmt von noch schwärzerem Haar, und sie kam ihm vertraut vor, schrecklich vertraut, so vertraut wie die huaraches an seinen Füßen. »Wie heiße ich?« wollte sie wissen und senkte besorgt das Gesicht zu seinem herab. »Wer bist du? Weißt du, wo du bist?«
Er kannte die Sprache, kannte die Stimme, ihre Rhythmen und Modulationen, und verstand ihre Fragen genau. Das Problem war nur, er konnte sie nicht beantworten. Wer sie war? Er kannte sie, natürlich, aber ein Name kam ihm nicht über die Lippen. Noch seltsamer war die Frage nach ihm selbst - wie konnte er sich denn nicht kennen? Er setzte zum Sprechen an, spürte schon die Form der Worte auf den Lippen - Yo soy, ich bin -, aber es war, als hätte plötzlich eine Wolke die Sonne verfinstert und die Worte in Dunkel getaucht. Und wo er war? Das ließ sich beantworten, das war leicht. »Draußen in der weiten Welt«, sagte er und grinste unvermittelt.
Später erzählte ihm América, er sei über drei Stunden lang völlig von Sinnen gewesen, habe geschnattert und getobt wie ein Insasse der Irrenanstalt auf der Avenida Hidalgo. Er hatte dem Präsidenten der Vereinigten Staaten eine Rede gehalten, Bruchstücke von Schlagern gebrüllt, die vor zwanzig Jahren beliebt waren, und im Flüsterton zu seiner toten Mutter gesprochen. Gejohlt, geknurrt und geschluchzt habe er, gekreischt wie ein Hühnchen, dem sich fünf Finger um den Hals schließen; und schließlich sei er erschöpft in einen tiefen, tranceähnlichen Schlaf gesunken. América war gekränkt. Sie hatte geweint, als er ihren Namen nicht sagen konnte, wieder geweint, als er nicht aufwachte, hatte den langen Vormittag, den endlosen Nachmittag und die ewige Nacht hindurch geweint. Er schlief die ganze Zeit, leblos wie ein Leichnam, bis auf seine Atemzüge, die durch die lädierten Nasenlöcher pfiffen.
Doch dann, in der Hitze des nächsten Nachmittags, als sie schon alle Hoffnung aufgegeben hatte und nur noch daran dachte, den Kopf in den Bach zu stecken, bis sie ertrank, oder sich von einem der hohen Felsen auf den harten Stein darunter zu stürzen, überraschte er sie. »América«, rief er plötzlich - aus dem Nichts, aus dem Schlaf, aus der Hülle heraus, die er geworden war, »ist noch was von diesen Bohnen übrig?«
Und das war's. Das Fieber war vorbei. Er war wieder bei klarem Verstand. Erinnerte sich an den Unfall, an die Tortillas, an die zwanzig Dollar, die ihm der gabacho gegeben hatte. Und als sie mit feuchten Wangen auf ihn zukam, ihm die Arme um den Hals warf und aus vollem Herzen schluchzte, da wußte er auch alles über sie: sie war siebzehn, und so vollkommen und schön wie ein Ei in der Schale; sie war América, die Hoffnung der Zukunft, seine Frau, seine Liebste, die werdende Mutter seines ersten Kindes, des Sohnes, der bereits Gestalt annahm an jenem geheimen Ort in ihrem Innern.
Sie mußte ihm auf die Beine helfen, damit er irgendwo seine Notdurft verrichten konnte, und auf dem Rückweg zur Decke brauchte er die Stütze ihrer Schulter, aber immerhin war er wieder
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