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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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unter den Lebenden. Danach aß er etwas - Tortillas direkt aus der Packung, Bohnen, die Brühe, die sie seit zwei Tagen auf dem Feuer köchelte, damit sie nicht schlecht wurde. Er aß langsam und besonnen, Löffel für Löffel, aber er behielt das Essen bei sich, und das war ein gutes Zeichen. Dennoch ließ der Schmerz keine Sekunde lang nach - er war stechend und beharrlich, wie ein wundgeriebener Nerv -, und er kämpfte ihn mit den kreidigen kleinen Aspirintabletten nieder, die er gleich handvollweise nahm, mit den Kiefern unter dem zerschmetterten Backenknochen zermalmte.
    Den Rest des Nachmittags saß er im Schatten auf der Decke und überdachte die Lage, während América erschöpft von ihrer Krankenwache schlief, ihr Kopf in seinem Schoß. Er hatte eine Gehirnerschütterung, soviel war klar, und sein linker Backenknochen war gebrochen, eingedrückt wie ein verfaulender Kürbis. Er konnte sich nicht sehen - einen Spiegel hatten sie in ihrem primitiven Camp nicht -, doch seine Finger sagten ihm, wie häßlich sein Gesicht aussah. Eine harte Schorfkruste verlief vom Kiefer hinauf bis zum Haaransatz, sein linkes Auge war zugeschwollen, und die Nase tat weh, wenn er sie nur leicht berührte - er mußte aussehen wie der Verlierer im Boxring nach der fünfzehnten Runde oder wie eines dieser Filmmonster, die bei Mondlicht aus den Gräbern steigen. Aber das machte nichts. Er würde weiterleben. Und wen kümmerte es, wie häßlich er war, solange erarbeiten konnte?
    Nein, sein Gesicht war egal - weit mehr Anlaß zur Sorge gab der Rest seines Körpers. Der linke Arm wollte gar nichts mehr tun - hing einfach nutzlos in der Schlinge, die América aus seinem Hemd geknüpft hatte -, und die Hüfte machte ihm auch zu schaffen, ein bohrender Schmerz jedesmal beim Aufstehen. Er fragte sich, ob vielleicht in der Gelenkpfanne etwas gebrochen war oder an dem Knochengrat direkt darüber. Oder ob er sich ein Band gerissen hatte oder so. Was es auch war, er konnte nicht arbeiten, einstweilen jedenfalls nicht - Himmel, er konnte kaum stehen, und das war sein Pech, seine verfluchte mala suerte, das zuließ, daß er an der Grenze ausgeraubt wurde, und ihn dann irgendeinem reichen Mann vor die Stoßstange schleuderte. Aber wenn er nicht arbeiten konnte, wie sollten sie essen?
    Und dann traf ein, was er unbedingt vermeiden wollte, aber schon befürchtet hatte: am vierten Tag nach dem Unfall stand América im Morgengrauen auf und versuchte sich den Hügel hinauf davonzustehlen, bevor er erwacht war. Nur sein sechster Sinn konnte ihn geweckt haben - sie war lautlos wie eine Katze, gehört hatte er sie bestimmt nicht. Sie stand ein Stück entfernt im Nebel, formlos in dem fahlen, verwaschenen Licht, und er sah, wie sie die Arme über den Kopf hob, wie sie ihr Kleid anzog, das gute, das beigefarbene mit den blauen Blumen, das sie nur trug, wenn sie einen guten Eindruck machen wollte. Aber oh, wie leise sie all das tat, die Pantomime einer Frau, die sich ankleidet. »¿Adonde vas, mi vida?« fragte er. »Wohin gehst du, Liebes?«
    »Pst«, flüsterte sie. »Schlaf wieder ein.«
    Der Tau lag schwer auf der Decke, auf seinem Hemd und der Schlinge, in der sein Arm steckte. Der Tag atmete ein und wieder aus, nur einen Zug, dann fragte Cándido noch einmal: »Ich sagte: Wo gehst du hin? Laß mich nicht ein drittes Mal fragen.«
    »Nirgendwohin. Mach dir keine Gedanken.«
    »Du hast das Feuer nicht angezündet«, sagte er.
    Keine Antwort. Der Nebel, die Bäume, die Vögel. Er hörte das Rauschen des Bachs, der unter einer Schicht aus Algen dem Meer entgegenfloß, und im Hintergrund das leise Motorengebrumm der ersten Pendler, die den Cañon hinunter zu ihrer Arbeit fuhren. Eine Krähe schrie dicht hinter ihnen, gellend und unvermittelt. Und dann war sie da, kniete vor ihm auf der Decke nieder, das Gesicht frisch gewaschen, das Haar gebürstet, in ihrem guten Kleid. »Cándido, querido, hör zu«, sagte sie und sah ihm dabei tief in die Augen. »Ich will die Straße hinauf zur Arbeitsvermittlung gehen und zusehen, ob ich nicht ... ob ich vielleicht ... etwas finde.«
    Etwas finde. Es war ein Schlag ins Gesicht. Was sagte sie da - daß er nutzlos war, impotent, ein alter Mann und reif für den Schaukelstuhl? Viejo, Alter, nannten ihn seine Freunde wegen der grauen Strähnen im Haar, auch wenn er erst dreiunddreißig war, und es war wie eine Prophezeiung. Wozu war er schon gut? Er hatte América ihrem Vater weggenommen, damit sie ein besseres Leben

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