American Gods
Minuten über die Brücke und am See lang. Aber bei der Kälte macht es bestimmt keinen Spaß, und wenn man sich nicht auskennt, kommt es einem nur umso länger vor – ist Ihnen das auch schon mal aufgefallen? Beim ersten Mal scheint es ewig zu dauern, aber von da an ist man immer ruckzuck da.«
»Ja«, sagte Shadow. »So hab ich das zwar noch nie betrachtet, aber ich glaube, Sie haben Recht.«
Der alte Mann nickte. Sein Gesicht verrutschte zu einem Grinsen. »Ach, was soll’s, es ist Weihnachten. Wir nehmen Tessie, und ich fahr Sie eben rüber.«
Shadow folgte dem Alten zur Straße, wo ein riesiger alter Roadster stand. Der Wagen sah aus wie etwas, auf das die Gangster der Roaring Twenties sich etwas eingebildet haben würden, mit Trittbrett und allen Schikanen. Ob seine tiefdunkle Farbe aber eher ins Rote oder ins Grüne ausschlug, war unter den Natriumdampflampen nicht zu entscheiden. »Das ist Tessie«, sagte der Alte. »Ist sie nicht ein Prachtstück?« Voller Besitzerstolz tätschelte er den Wagen dort, wo die Motorhaube einen Aufwärtsbogen beschrieb und sich über das diesseitige Vorderrad schwang.
»Was für eine Marke ist das?«, fragte Shadow.
»Ein Wendt Phoenix. Wendt ist 1931 untergegangen. Der Name wurde dann von Chrysler gekauft, aber die haben keine Wendts mehr gebaut. Harvey Wendt, der Firmengründer, kam von hier. Ging nach Kalifornien, hat sich, na, 1941, 42 umgebracht. Große Tragödie.«
Das Auto roch nach Leder und altem Zigarettenrauch – kein frischer Geruch also, eher so, als hätten im Laufe der Jahre so viele Leute so viele Zigaretten und Zigarren geraucht, dass der Geruch von brennendem Tabak zum Materialbestandteil des Wagens geworden war. Der Alte drehte den Zündschlüssel im Schloss, worauf Tessie sofort ansprang.
»Morgen«, sagte er zu Shadow, »kommt sie in die Garage. Ich ziehe eine Staubdecke drüber, und dann bleibt sie da bis zum Frühling. Um die Wahrheit zu sagen, ich dürfte sie heute eigentlich gar nicht fahren, bei dem Schnee.«
»Fährt er nicht gut auf Schnee?«
»Fährt großartig. Es ist nur wegen dem Salz, das gestreut wird. Lässt diese alten Schönheiten schneller rosten, als Sie für möglich halten würden. Möchten Sie auf schnellstem Weg an Ihr Ziel, oder darf es die große Mondschein-Stadtbesichtigungstour sein?«
»Ich möchte Ihnen keine Umstände machen …«
»Keineswegs. In meinem Alter ist man für jedes Mützchen voll Schlaf dankbar. Aber ich kann heutzutage von Glück sagen, wenn ich in der Nacht mal fünf Stunden am Stück abkriege – ich wach auf und wälze Gedanken noch und noch. Aber wo sind eigentlich meine Manieren? Ich heiße Hinzelmann. Eigentlich müsste ich sagen, nennen Sie mich Richie, aber hier sagen alle, die mich kennen, einfach immer nur Hinzelmann zu mir. Ich würde Ihnen jetzt auch die Hand geben, aber ich brauche beide Hände, um Tessie zu lenken. Sie merkt es sofort, wenn ich nicht ganz bei der Sache bin.«
»Mike Ainsel«, sagte Shadow. »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Hinzelmann.«
»Also, fahren wir mal um den See. Die große Tour«, sagte Hinzelmann.
Die Main Street, auf der sie sich befanden, war eine hübsche Straße, sogar nachts; sie wirkte im besten Sinne altmodisch – als hätten die Menschen sich die letzten hundert Jahre über liebevoll um diese Straße gekümmert und es nicht eilig damit gehabt, irgendetwas aufzugeben, was ihnen ans Herz gewachsen war.
Hinzelmann wies, während sie daran vorbeifuhren, auf die zwei Restaurants der Stadt hin (ein deutsches und eines, das er als »teils griechisch, teils norwegisch, und bei jedem Gericht gibt’s noch Plundergebäck dazu« beschrieb), zeigte Shadow die Bäckerei und den Buchladen. (»Wie ich immer sage: Eine Stadt ist ohne Buchladen keine richtige Stadt. Sie mag sich als Stadt ausgeben, aber solange sie keinen Buchladen hat, weiß sie, dass kein Mensch darauf reinfällt.«) Er ging mit dem Tempo herunter, als sie an der Bibliothek vorbeikamen, damit Shadow alles genauestens begutachten konnte. Über dem Eingang flackerten altertümliche Gaslampen – worauf Hinzelmann Shadow voller Stolz aufmerksam machte. »In den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts von John Henning erbaut, dem hiesigen Holzmagnaten. Er wollte, dass sie Henning Memorial Library heißt, aber nach seinem Tod hat man sie einfach nur noch Lakeside Library genannt, und ich schätze, so wird sie jetzt für alle Zeiten heißen. Ist es nicht ein Traum?« Er war so stolz, als hätte
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