Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
Journalisten, die ähnliche Touren unternommen hatten. Zum Beispiel die gesammelten Kolumnen von Ernie Pyle, einem Freund Steinbecks und bedeutenden Kriegsberichterstatter, der in den dreißiger Jahren für eine Reihe von Zeitungen kreuz und quer durchs Land gefahren war. Natürlich habe ich auch Inside U.S.A. des Journalisten John Gunther mitgenommen, der von Dezember 1944 bis Ende 1945 sämtliche achtundvierzig Staaten besucht und eine etwas systematischere Bestandsaufnahme gemacht hatte; ein dickes Buch mit vielen interessanten Details und Tabellen. Gunther war einer der namhaftesten Journalisten seiner Generation, auch er kannte Steinbeck aus der New Yorker Szene. Es war ein noch eher bescheidenes Amerika, das er 1945 bereiste: 15 Prozent der Wehrpflichtigen konnten weder lesen noch schreiben, nur jede zehnte Familie verfügte über ein Jahreseinkommen von mehr als 4000 Dollar, in 40 Prozent der Wohnungen oder Häuser gab es weder Bad noch Dusche, in 35 Prozent nicht einmal eine Toilette.
Als weiteres Buch aus den vierziger Jahren hatte ich die aufschlussreiche völkerpsychologische Studie über »die« Amerikaner von dem Anthropologen Geoffrey Gorer eingepackt, aus den Achtzigern und Neunzigern Studs Terkels Interviews mit Durchschnittsamerikanern, aus den Achtzigern außerdem das geistreiche Buch Blue Highways von William Least Heat-Moon, aus dem letzten Jahr des Jahrhunderts An Empire Wilderness , den beunruhigenden Reisebericht von Robert Kaplan, und das war noch längst nicht alles.
Meine Frau leistete mir Gesellschaft, eine glückliche Notwendigkeit, denn zusammen, das wissen wir von früheren Expeditionen, sind wir nach kürzester Zeit ein Reisemaschinchen, das läuft wie geschmiert. Außerdem hatte ich mich der Hilfe von Sandy versichert – so hieß die Stimme aus einem kleinen, an der Windschutzscheibe befestigten Gerät, die uns den Weg wies. Ganz gleich, welche amerikanische Adresse ich eingab, Sandy führte uns zuverlässig ans Ziel. Noch dazu kannte sie alle möglichen Motels und Restaurants in der jeweiligen Gegend. Ein Zauberkästchen, das Steinbeck vor fünfzig Jahren sicher in großes Entzücken versetzt hätte, denn er liebte technische Spielereien. Er selbst hatte eine dicke Mappe mit Landkarten mitgenommen, verirrte sich aber trotzdem regelmäßig.
Uns konnte das nicht passieren. An Kartenmaterial hatten wir nichts als einen riesigen Atlas Of The Fifty United States von National Geographic aus dem Jahr 1960 auf dem Rücksitz, weil ich natürlich genau wissen wollte, welche Wege Steinbeck nehmen musste – viele der Interstate Highways gab es damals nämlich noch nicht.
Es war ein warmer Septembernachmittag, als wir uns vom JFK entfernten und auf dem Southern State Parkway zur Ostspitze von Long Island fuhren, die Sonne im Rücken. Auf der von Bäumen gesäumten Schnellstraße herrschte Hochbetrieb, jeder wollte schnell aus der Stadt hinaus und ins Wochenende. Sandy gab fröhlich ihre Anweisungen, das Radio sang ein Lied, meine Liebste behielt die Ampeln und Ausfahrten im Auge: »Jetzt die lane wechseln, schnell, schnell, ja, gut. Da bleiben. Pass auf den Truck da auf, der überholt dich gleich rechts. Nach einer Meile kommt die junction mit der 27.« Unser Reisemaschinchen lief schon wieder ausgezeichnet.
Auf der linken Seite glitt Levittown vorbei. Es ist noch heute ein wohlhabender Vorort. Allerdings haben inzwischen einige Generationen so viel an ihren Häusern herumgebastelt und verändert, dass von den Tausenden Levitt-Häusern nur noch eine Handvoll in mehr oder weniger ursprünglichem Zustand ist. Mindestens eine Stunde bewegten wir uns in einer rasenden Blechlawine, aber als wir den Sunrise Highway erreichten, hatte sich New York ausgetobt: Die Wälder links und rechts wurden einsamer, der Verkehr höflicher und gemütlicher. Bei Bridgehampton bogen wir nach Norden ab, dort wird die Landschaft leicht hügelig, und im ersten Moment kommt es einem so vor, als führe man am Rand eines englischen Dorfes entlang, zwischen kleinen Seen und Weihern – in Wirklichkeit sind es Enkel und Urenkel des Atlantiks, die ursprünglich zu einer meilenlangen Kette von Buchten gehörten. Wieder ein Buckel, und dann liegt Sag Harbor vor einem.
Die breite Main Street des Hafenstädtchens strahlt eine fast anachronistische Würde und Ruhe aus. Es ist eine elegante Ladenstraße, die von den teureren Außenbezirken in einer sanften Biegung hinunter zum Hafen führt, zum custom house und der jetzt
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