Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
Straßenfest mit Paraden, bekam in den fünfziger Jahren zunehmend private Züge: An dem freien Tag unternahmen die Menschen immer häufiger Familienausflüge, veranstalteten Picknicks oder Grillpartys. Nada Barry, die Witwe von Bob Barry, die es irgendwann einmal nach Sag Harbor verschlagen hatte, um dort soziologische Forschungen vorzunehmen, machte damals schon die Beobachtung, dass die typisch amerikanische porch culture – die Angewohnheit amerikanischer Familien, abends vor dem Haus auf der großen Veranda zu sitzen und mit Passanten zu plaudern – in Sag Harbor bereits Ende der fünfziger Jahre vollständig verschwunden war. In der Geschichte der Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg geht es vor allem um die Anpassung an diese vollkommen neue Art des Zusammenlebens. Die Grundwerte der herrschenden Kultur wurden in weniger als zehn Jahren ganz und gar auf den Kopf gestellt. Die Amerikaner wechselten von einer Kultur, in der man dem Mangel trotzen musste – mit aller Strenge und Starrheit, die dazu gehört –, in eine Kultur, in der der Genuss – und immer noch mehr Genuss – des Überflusses im Mittelpunkt stand.
Dieser rasante, aber öffentlich nicht diskutierte Wandel ihrer Gesellschaft, die tiefgreifende Veränderung der Prioritäten und das Schwinden der klassischen amerikanischen Werte wie Sparsamkeit, Einfachheit und Solidarität verunsicherte nicht wenige Amerikaner. Sie spürten, dass die Party mit all den Waschmaschinen, rosafarbenen Buicks und den flotten Petticoats einen einschneidenden Bruch markierte. Der Sieg über die Welt des Mangels war eine historische Leistung ersten Ranges, aber den Menschen dämmerte, dass das Reich des Überflusses neue Probleme mit sich bringen würde, und zwar von einer Art und in einem Umfang, von denen sie sich noch keine Vorstellung machten.
Es ist eine klassische Geschichte, die Abfolge der Generationen: Die erste Generation kämpft sich aus der Armut, die zweite Generation erwirbt Reichtum, die dritte Generation ist verwöhnt und läuft aus dem Ruder. Hier ging es um mehr, jetzt ging es um die Fundamente ihrer Gesellschaft. In einer Überlebenskultur hat der Mensch schließlich nur wenige Wahlmöglichkeiten. Nun gab es durchaus Alternativen, und zwar immer zahlreichere. Dadurch wurden mehr oder weniger alle traditionellen Normen und Werte, die ihre Wurzeln in der »Welt der Notwendigkeit« hatten, zur Diskussion gestellt.
Aus diesem Grund begann es auch schon während der fünfziger Jahre hier und da in der amerikanischen Gesellschaft zu gären: bei den schwarzen Bürgern, die nun die gleichen Rechte haben wollten; bei Studenten und Künstlern, die experimentierend bereits nach Alternativen zur Konsumgesellschaft suchten; bei den Konservativen, die auf ihre Weise dasselbe taten, indem sie an Religion und Traditionen festhielten; bei den Frauen, die in einem puppenstubenhaften Leben in einer Suburb verschmorten.
»Was uns geschah, kam schnell und leise aus allen Richtungen und erwies sich umso gefährlicher, als es die Maske des Guten trug«, schrieb John Steinbeck in Amerika und die Amerikaner . »Die Muße, die bisher dem Himmelreich vorbehalten gewesen war, kam zu uns, die wir wussten, was damit anzufangen sei. Alle diese guten Sachen, die ohne Vorbereitung über uns hereinbrechen, schaffen Unheil. Wir haben die Sachen, haben aber nicht Zeit gehabt, eine mit ihnen rechnende Denkweise zu entwickeln. Wir geben uns Mühe, die Lebensweise der Gegenwart und die Gewohnheiten in der langen, fest eingeprägten Vergangenheit in Einklang zu bringen.«
TEIL ZWEI
We shall be as a city upon a hill,
The eyes of all people are upon us.
PREDIGT VON
PASTOR JOHN WINTHROP, 1630
1
Unsere Rosinante war ein Jeep, ein Jeep Liberty in Silbermetallic. Nagelneu, ein robustes Fahrzeug mit Automatik, Tempopilot und Servolenkung, aber nicht allzu groß – jedenfalls für amerikanische Begriffe. Auf einer ausgedehnten Betonfläche am John F. Kennedy International Airport durfte ich mich mit ihm vertraut machen, und nach dem Ausfüllen einiger Formulare gehörte er für mindestens zehn Wochen mir. Der Meilenzähler stand auf 189. Der ganze Wagen roch nach neuem Kunststoff und Metall.
Ich hatte ein paar Taschen und Koffer bei mir, darin auch einiges an Lesestoff. Steinbeck natürlich, einschließlich der Kopien aller erhaltenen, während der Reise mit Charley geschriebenen Briefe. Außerdem ein paar frühere und spätere Reiseberichte von Schriftstellern und
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