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Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Titel: Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geert Mak
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Schaufenster wurden zugenagelt, Boote an Land gezogen oder mit drei, vier, fünf Ankern ein gutes Stück vom Ufer entfernt festgemacht; Taschenlampen und Notproviant bereitgelegt. Für die tiefer gelegenen Viertel gab es sogar Evakuierungspläne, im Pierson Gymnasium konnten im Notfall bis zu achthundert Menschen untergebracht werden. Ältere Einwohner wie John Ward und Dave Lee hatten solche Situationen schon öfter erlebt und wussten, dass die Stadt auch glimpflich davonkommen konnte: Trifft ein Hurrikan nur wenige Grad weiter östlich auf die Küste, weht es in Sag Harbor nicht heftiger als bei einem schweren Sturm. Aber das lässt sich kaum vorhersagen, und beim Hurrikan Gloria im Jahr 1985, dem letzten in Sag Harbor seit Donna, hat das Wasser das Gebäude der American Legion in der Nähe des Hafens erreicht.
    Als wir schließlich ankommen, ist Earl schon hinter dem Horizont verschwunden. Die Stadt hat großes Glück gehabt, der Polizeichef meint, das Ganze sei »nicht mehr als eine gute Übung« gewesen. In New York hat der Hurrikan ein großes Chaos angerichtet, Lastwagen wurden umgeworfen, dreißigtausend Haushalte hatten stundenlang keinen Strom, aber in Sag Harbor ist gerade einmal ein Baum umgestürzt. Allerdings ist das Büro des Sag Harbor Express überschwemmt worden, die Teppichböden sind noch nass; die Wochenauflage von fünftausend Exemplaren konnte trotzdem problemlos ausgeliefert werden.
    Ich bin mit Bryan Boyhan verabredet, dem Chefredakteur und Verleger. Er hat müde Augen, sein Gesicht ist gerötet von allzu vielen Arbeitsstunden, aber er ist ein temperamentvoller Erzähler. Der Zeitung gehe es gut, versichert er. Die amerikanische Presse insgesamt habe große Probleme, doch Lokalzeitungen wie diese könnten sich gut halten. Er lacht: »Über den Krieg in Afghanistan kann man alles im Internet lesen, aber wenn man wissen will, welche Entscheidung der school-board zu einem neuen Sportplatz getroffen hat, braucht man uns.«
    Die nächste wöchentliche Deadline ist schon in Sicht, und in der Redaktion – die mit ihrem Durcheinander alter Ausgaben und Zeitungsausschnitte und der antiken Druckpresse in der Ecke genau so aussieht, wie man es erwartet – tippen vier von Bryans Kollegen eifrig Artikel. Über einen Streit um den Namen eines Hamburgerrestaurants, den neuen Richter von Sag Harbor, Andrea Schiavoni – und über John Steinbeck. Dass Steinbecks Amerikareise vor ziemlich genau einem halben Jahrhundert anfing, ist natürlich auch dem Sag Harbor Express nicht entgangen.
    Trotz des Termindrucks nimmt sich Bryan viel Zeit dafür, mir die Anatomie von Sag Harbor zu erläutern. Denn Sag Harbor sei nicht irgendeine Kleinstadt, es sei ein Phänomen. Er habe die gesamte jüngere Geschichte selbst miterlebt: die Verwandlung des Industriestädtchens in einen Ferienort, die rasante Entwicklung des Old Whalers’ Festivals, das Steinbeck erfunden hat und dessen Organisationskomitee Bryan selbst fünfzehn Jahre lang leitete, und welche Kräfte man mit alldem entfesselt habe, ohne es zu wissen.
    Das alte Sag Harbor sei »eine typische Familienstadt« gewesen. »Steinbecks Freunde, Männer wie John Ward und Bob Barry, das waren alles Geschäftsleute aus dem Ort. Und alle miteinander verwandt und verschwägert. Zusammen haben sie sich dieses Festival ausgedacht, samt Walfänger-Wettkampf, natürlich mit Walattrappen, alles sehr witzig.« Es wurde ein großer Erfolg und lockte jedes Jahr mehr Besucher an, mit unvorhergesehenen Folgen. »Vor einem Vierteljahrhundert kamen nur wenige große Yachten zu uns. Heute ist Sag Harbor für Luxusschiffe auf der Atlantikroute eine wichtige Station.« Und weil Geld immer Geld anzieht, schossen die Immobilienpreise in die Höhe; die Bevölkerungsstruktur ist heute eine völlig andere als vor ein paar Jahrzehnten. Bryan: »Es hat etwas Tragisches: Steinbeck und seine Freunde hatten verstanden, dass man etwas tun musste, um Sag Harbor zu fördern. Aber sie haben einen Geist aus der Flasche gelassen.«
    Ich frage nach der jüngsten Wirtschaftskrise und ihren Auswirkungen auf Sag Harbor. Bryan Boyhan murmelt ein paar optimistische Worte, sagt dann aber, wenn man den Leuten auf der Straße zuhöre, stelle man fest, dass seit einigen Jahren Enttäuschung und Neid zunähmen. Die sozialen Spannungen zwischen den haves und den have nots haben sich verschärft; einige alteingesessene Familien haben sich gut an die neuen Verhältnisse angepasst, andere nicht. »Viele Ältere

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