Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
amerikanischen Ideale. In den Dialogen wimmelt es – ganz untypisch für den rauen Steinbeck – von Kosenamen und Liebenswürdigkeiten. Aber diese Freundlichkeit erweist sich immer häufiger als nichtssagend und hohl, und tatsächlich ist es in diesem Land so, dass Nettigkeiten oft nicht Nähe, sondern Distanz schaffen.
Eine Erkenntnis trifft Ethan besonders hart: Sein eigener Sohn ist von dem moralischen Verfall angesteckt. Ethan Allen junior hat an einem landesweiten Aufsatzwettbewerb zum Thema »Ich liebe Amerika« teilgenommen und gewonnen. Geld, Ehre und Ruhm winken, er wird zu Fernsehshows eingeladen. Doch dann kommt heraus, dass Ethans Sohn den Aufsatz aus Texten einiger patriotischer Schriftsteller und Politiker zusammengestückelt hat, darunter Thomas Jefferson und Abraham Lincoln. Am meisten bestürzt Ethan die gleichgültige Antwort seines Sohnes, als er ihn zur Rede stellt: »Das tun alle. So kriegt man sein Stück vom Kuchen ab.«
Nicht nur der Schauplatz ist bis zu einem gewissen Grade wiederzuerkennen, auch bei einigen der geschilderten Intrigen schimmert die damalige Wirklichkeit durch. Mit Ethan juniors Plagiat baut Steinbeck die ersten Auswüchse des neuen Phänomens Fernsehen in die Geschichte ein, genauer gesagt den Quizshow-Skandal, der Amerika Ende 1959 in Aufregung versetzte.
Alles begann mit dem überwältigenden Erfolg einer neuartigen Fernsehquizshow, Twenty-One . Das vom Radioquiz Take It or Leave It übernommene Konzept war einfach: Die Schwierigkeit der Fragen steigerte sich allmählich, die erste richtige Antwort brachte einen Dollar, bei jeder weiteren verdoppelte sich der Gewinn, und der Kandidat hatte nach jeder Frage die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: to take the prize oder to leave it , also mit einer neuen Frage weiterzumachen.
Die Quizshow war schnell in aller Munde, weil die Teilnehmer ein Vermögen gewinnen konnten. Die Kandidaten waren scheinbar ganz normale Amerikaner mit verborgenen Talenten; es hätten die Nachbarn in Levittown oder Sag Harbor sein können.
Im Hintergrund ging es jedoch um sehr viel mehr Geld, als in dem Quiz selbst zu gewinnen war. Für den Hauptsponsor, den Kosmetikhersteller Revlon, brachte die Sendung goldene Zeiten; an manchen Tagen lockte sie mehr als 47 Millionen Zuschauer vor den Apparat.
Den Fernsehleuten wurde schnell klar, dass die Show ihre enorme Attraktivität weniger dem Wissen der Kandidaten als der Inszenierung samt der dazugehörigen Emotionen verdankte. Deshalb wurden die Teilnehmer vor allem danach ausgewählt, ob sie sich später einmal für die Rolle des Helden oder des Schurken eigneten, wie beim Casting für eine Seifenoper. Als unsympathisch empfundenen Gewinnern stellte man in einer folgenden Runde schwierigere Fragen als ihren Gegnern, so konnte man sie schnell hinausmanipulieren.
Die Sache ging ein paar Jahre lang gut, bis ein armer Student in den Ring stieg. Herb Stempel war ein typischer Nerd, er war klein und gedrungen, von einfacher Herkunft, aber in Wahrheit, wie Verwandte und Freunde behaupteten, ein wandelndes Lexikon, er besaß ein fotografisches Gedächtnis. Schon bei den ersten Tests erzielte er verblüffend hohe Punktzahlen, und er hätte der ideale Kandidat sein können, wäre er nicht derart unattraktiv gewesen. So wurde beschlossen, aus der Not eine Tugend zu machen: Im Quiz bekam Stempel die Rolle des schlauen, aber unangenehmen Typen. Zwar half man ihm auf jede Weise – zum Beispiel wurden ihm während der Show Fragen gestellt, die er schon bei einer Proberunde hatte beantworten müssen –, und er spielte dankbar mit, gewann Tausende von Dollar und erntete bewundernde Blicke seiner Mitstudentinnen von der City University. Doch irgendwann musste er auch wieder fallen, denn das Drehbuch sah nun einmal vor, dass der »Bösewicht« am Ende verlor.
Als Gegner des »bösen« Stempel brauchte man einen »guten Amerikaner«, einen Helden. Man fand ihn in Person eines jungen Englischdozenten an der Columbia University, Charles Van Doren. Er war genau der Mann, den man gesucht hatte: attraktiv, weiß, freundlich, ein wenig schüchtern, abwägend und außergewöhnlich intelligent. Noch dazu stammte er aus mehr als nur gutem Hause. Die Van Dorens waren eine alte amerikanische Familie niederländischer Herkunft, Intellektuelle von hervorragendem Ruf, die zur freisinnigen Elite gehörten. Echte liberals also – der Begriff ist kaum zu übersetzen, weil er im Unterschied zu dem des Liberalen im westeuropäischen
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