Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
das mit dem Versagen seines eigenen Vaters zusammen – etwas so Demütigendes durfte sich nicht wiederholen. Steinbecks Einstellung war aber auch typisch amerikanisch. Ihm stand ein klassisches Traumbild vor Augen, das Bild der perfekten amerikanischen Jugend, ein mit gutem Willen immer erreichbares Ideal, wie es »der Amerikaner« in der amerikanischen Selbstwahrnehmung ist – denn Amerikaner zu sein ist kein Schicksal, sondern eine freie Entscheidung, eine Tat. In amerikanischen Filmen, in der Literatur der vierziger und fünfziger Jahre, in Richard Yates’ beliebtem Entwicklungsroman Zeiten des Aufruhrs von 1962, überall träumen die Protagonisten von einem sinnvollen Leben, das zu leben sich lohnt, einem Leben als Willensakt.
Das sogenannte Curriculum of Power in der Werbeanzeige eines heutigen Internats zählt Folgendes auf: »Hervorragende Leistungen in der aktiven Sprachbeherrschung, im überzeugenden Schreiben und Sprechen … Vervollkommnung des Sozialverhaltens und der Umgangsformen … Körperliches Training, um Anmut, Gesundheit, Schönheit und Selbstdisziplin zu erlangen … Bewältigung besonderer Herausforderungen: ein Pferd versorgen, hundert Meilen Fahrrad fahren, ein Geschäft eröffnen«, und in diesem Stil geht es weiter.
Aus seinem Leben etwas ganz Großes machen zu wollen, das war auch typisch für Steinbeck. Und seine Jungen sollten werden, was sie nicht waren, das verlangte nicht nur er als Vater von ihnen, sondern auch das amerikanische Ideal. Deshalb sollte John junior das einfache Leben kennen lernen – und wurde doch in einem Internat untergebracht, das sich nur die Reichsten leisten konnten; sein Zimmergenosse war der Sohn des Direktors von Trans World Airlines. Steinbecks anderer Sohn, Thomas, hockte in seiner Freizeit jahrelang brav im Zimmer und bastelte Modellflugzeuge; sein Bruder behauptet allerdings, dass er dabei auch gern die Lösungsmittel im Leim einatmete.
»Sein Verhältnis zu seinen Söhnen war mir immer ein Rätsel«, hatte Nada Barry bei unserem Abschiedsgespräch gesagt. »Es war immer gespannt, sie waren sich nie sehr nah. Wenn es darauf ankam, war Steinbeck sehr verschlossen.«
Steinbeck behandelte seine beiden Söhne, auch als sie noch sehr jung waren, wie kleine Erwachsene – bei der Lektüre seiner Briefe fällt einem das immer wieder auf. Er war noch in einem Amerika aufgewachsen, in dem die Kinder – wie fast überall auf der Welt – mehr oder weniger als Erwachsene im Kleinformat wahrgenommen wurden. Sobald sie einen Besenstiel halten konnten, mussten sie helfen: im elterlichen Laden, auf der Farm, im Haushalt. Diese Tradition wirkte lange fort: Dass man Kinder, vor allem Jungen, als Zeitungszusteller, Autowäscher oder mit anderen kleinen Arbeiten ein bisschen Geld verdienen ließ, gehörte viele Jahrzehnte lang ganz selbstverständlich zu einer soliden amerikanischen Erziehung.
Die Einstellung der Älteren zu den Jungen veränderte sich gerade in den Jahren, als Steinbecks Söhne aufwuchsen, von Grund auf. Das Motto der fünfziger Jahre lautete: Unsere Kinder sollen es besser haben als wir mit unserer durch Krieg und Depression verlorenen Jugend. Sie mussten es einfach besser haben, um jeden Preis. Der wirtschaftliche Aufschwung machte es möglich, dass in den Familien nur ein Verdiener – fast immer der Mann – für das nötige Einkommen sorgte, während der Partner – die Frau – sich ganz dem Haushalt und den Kindern widmen konnte. Um dieses neue Ideal herum wurden Levittown und all die anderen Vorstädte gebaut. Zum ersten Mal in der Geschichte rückte das Kind in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, auch in der Gesellschaft insgesamt.
All diese Veränderungen hatten etwas Widersprüchliches. Einerseits brachten die vielen Wahl- und Konsummöglichkeiten ein neues Gefühl der Freiheit, individueller Freiheit, manchmal aber auch der Freiheit von Verantwortung. Selbst in den innerfamiliären Beziehungen. Andererseits wurde es wichtiger als je zuvor, das Kind zu umsorgen und zu behüten. Man könnte es auch anders sagen: Männer und Frauen brauchten sich nicht füreinander aufzuopfern – das war nicht mehr zeitgemäß –, wohl aber für ihre Kinder.
Solche Widersprüche treten immer wieder auch in Steinbecks Briefen zutage. Da ist einerseits sein eigener Freiheitsdrang – er taucht in seine Buchprojekte ab, unternimmt ausgedehnte Reisen, bleibt für seine Söhne im Grunde unerreichbar –, andererseits neigt er, wenn es um ebendiese Söhne
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