Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
London wurde Mitte des 17. Jahrhunderts von Engländern gegründet, die wie alle frühen Siedler zunächst ihre Heimat eins zu eins in die Neue Welt hineinkopierten. Diese Stadt hat nicht das Rechtwinklige typisch amerikanischer Ansiedlungen, sondern eine unregelmäßige Struktur, wie wir sie von fast allen europäischen Städten kennen. Wir werden noch durch mehrere solcher Städte kommen, zum Beispiel Hartford und Springfield; nicht umsonst heißt dieser Teil der Vereinigten Staaten Neuengland. Ihre eleganten Kirchtürme, die zu Steinbecks Zeiten noch alle anderen Gebäude überragten, sind heute von riesigen gläsernen Bürohochhäusern umzingelt. Ein wenig verlegen wirken sie, wie alte Tanten auf einer Party von jüngeren Leuten.
Die Route führt nordwärts, vorbei an den heimeligen Häusern und Gärten, die auch mein Vorgänger vor fünfzig Jahren sah, an den gleichen Ständen mit Obst, Kürbissen und Kartoffeln – so dick, wie man sie in Europa nicht kennt –, durch dieselben Alleen, dieselben südenglisch anmutenden Wälder, die hier doch schon ein klein wenig herbstlich sind.
John fand einen Spirituosenladen an der Landstraße, hielt an und deckte sich mit einer beachtlichen Menge an Alkohol ein: Bourbon, Scotch, Gin, Wermut, Wodka, Kognak, Apfelschnaps, eine Kiste Bier. Er wusste, dass er durch einige »trockene« Counties und Staaten kommen würde, in denen puritanische Gesetze den Verkauf und Ausschank von Alkohol verbieten oder einschränken; außerdem wollte er unterwegs Zufallsbekanntschaften zu einem Drink in sein fahrendes Haus einladen, um im Gespräch etwas über die Stimmung im Land zu erfahren. Daraus wurde dann nicht viel. Nach dem Großeinkauf fuhr er weiter nach Deerfield, Massachusetts, um seinen jüngeren Sohn John in der Eaglebrook-Schule zu besuchen, einem altehrwürdigen Internat für Kinder reicher Eltern. Über seine Erlebnisse dort wollte er in Die Reise mit Charley nicht viel sagen: »Man kann sich vorstellen, was für eine Wirkung Rosinante auf zweihundert minderjährige Insassen einer Erziehungsanstalt hatte, die sich gerade anschickten, ihre Winterhaft abzusitzen.«
Die Anstalt gibt es immer noch, ein elegantes Ensemble niedriger Gebäude, von Wäldchen umgeben. Überall auf den Wegen begegnen einem Gruppen fröhlicher, unbefangener Kinder, die nichts von Erziehungssträflingen an sich haben. In seinem ersten Brief an Elaine berichtet Steinbeck, er habe dort angenehme Stunden verlebt. Er platzte mitten in den jährlichen powwow hinein, ein Ritual, bei dem neue Schüler in einen der beiden »Stämme« der Schule aufgenommen wurden; es gab ein großes Lagerfeuer und eine Ansprache des Schulleiters, der sich aus diesem Anlass als Häuptling verkleidet hatte. Rosinante wurde von allen Schülern und Lehrern bewundert, John junior erwies sich als perfekter Gastgeber, verteilte Kaffee und erzählte John senior von seinen Erfolgen in der Schule. Steinbeck schaute bei einem Football-Spiel zu, und abends aßen Vater und Sohn ein miserables Steak in einer tristen Raststätte. Aber Steinbeck verabschiedete sich mit einem guten Gefühl: »Wir mochten uns und gingen zwanglos miteinander um, und das ist wunderbar.«
Wie können Väter und Söhne sich so ineinander täuschen, genauer gefragt, wie kann das Bild, das sie sich vom anderen gemacht haben, ihnen derart den Blick verstellen? In seinen 2001 erschienenen Erinnerungen, The Other Side of Eden , schildert John junior ausführlich seinen Aufenthalt in Eaglebrook. Er empfand die Schule als luxuriösen Aufbewahrungsort für die Kinder der Reichen, ausgestattet mit wunderschönen Parks und Sportplätzen und zahllosen anderen Annehmlichkeiten, um das Gewissen der nur an ihrer Arbeit interessierten Eltern zu beruhigen. Schon damals, behauptet Sohn John, sei ihm klar geworden, dass sein Vater ein » asshole« gewesen sei. »Er lebte in der Luftblase des Großen Autors, so dass man keinen Vater vor sich hatte, sondern sich in Gegenwart des Großen Autors befand.« John junior begriff nicht, dass in Steinbecks Weltbild auch der Große Sohn eine wichtige Rolle spielte. Ein Freund wie »Doc« Ed Ricketts trat in seinen Romanen immer wieder als Idealfigur auf, arm, aber klug und glaubwürdig, raubeinig, aber ehrlich wie Gold, ein leuchtendes Gegenbild zum verkommenen Amerika. Diesem Idealbild – es war das der dreißiger Jahre – sollten auch Steinbecks Söhne entsprechen. Als sie das nicht konnten, war er zutiefst enttäuscht.
Vielleicht hing
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