Amerikanische Reise
ihn um ein paar hunderttausend
Dollar betrogen, und zwei Tage später wurde sein deutscher Freund auf einem Busbahnhof erstochen. Außerdem war seine Ehe am
Ende. Walter saß tagelang in der Wohnung und rührte sich nicht vom Fleck. Kristin ging es ebenso. Walter saß im Wohnzimmer
und sie im Schlafzimmer. Sie lebten nebeneinander her wie Gespenster. Der Mord an Jan wurde nie aufgeklärt. Die Tat hatte
in einer Ecke stattgefunden, die von der Kameraüberwachung des Busbahnhofs nicht erfaßt wurde. Die Videobänder zeigten, wie
Jan durch die Haupthalle gegangen und mit der Rolltreppe auf die erste Ebene gefahren war. Dann stand er auf der obersten
Ebene eine Weile an einem der
Gates
und wollte nach knapp fünfzehn Minuten über die Treppe, die für ihn dann zur Falle wurde, auf die erste Ebene zurückkehren.
Es gab darüber hinaus Aufnahmen von zwei Jugendlichen, die sich zur Tatzeit im Bahnhof herumgetrieben hatten, aber die beiden
konnten nicht identifiziert werden. Gefunden wurde Jan nach ungefähr dreißig Minuten, ohne seine Brieftasche, in der nicht
mehr gewesen war als eine Kreditkarte und ein paar Dollar.
Walter war nach den Ereignissen völlig apathisch. Kristin begriff, daß nicht nur der Mord an Jan ihn aus der Bahn geworfen
hatte, sondern auch sein Verhalten gegenüber Cindy. Ihr wurde klar, daß es falsch war, ihn ein für allemal zu verurteilen.
Er war entsetzt über sich selbst, und sein Gewissen quälte ihn. In dieser Situation brachte Kristin es nicht fertig, ihm zu
sagen, daß nicht Neil die zweihunderttausend Dollar verspekuliert hatte, sondern sie. Was hätte sie dazu alles erklären müssen.
Walter wußte ja nicht einmal, daß sie überhaupt mit Aktien handelte.
Kristin konnte Walter nicht verlassen, weil sie nicht unschuldig |250| war. Sie hatte ihren eigenen kleinen Aktienhandel betrieben, der allerdings mit der Zeit immer größer geworden war, weil sie
– im Gegensatz zu Walter – zum einen ein gutes Gespür für Kursentwicklungen besaß und zum anderen über Geld verfügte, das
ihr zwar nicht gehörte, worin sie aber kein Problem sah. Sie benutzte die von Walter durch Zufall entdeckten geheimen Zugangscodes
zu den Sparkonten seiner Bank, um sich Kapital zu verschaffen. Sie hatte getan, wessen Walter Neil verdächtigte.
Walter saß damals oft bis spät in die Nacht am Monitor und arbeitete. Gelegentlich massierte Kristin ihm dabei die Schultern,
die steif waren von der tagelangen Sitzerei. Sie stierte dabei auf den Monitor und war mühelos in der Lage, die Informationen
auf dem Bildschirm zu lesen. Einmal stellte sie fest, daß Walter nicht auf der System-Ebene war, auf der er üblicherweise
seine Transaktionen durchführte. Er war viel tiefer in die Datenverwaltung der Bank eingedrungen, als er berechtigt gewesen
wäre. Es dauerte nicht lange, und Kristin begriff,
wie
tief. Sie sprach ihn nicht darauf an, sondern sah sich aus Neugier am nächsten Tag in seinen Festplattendateien um, die nicht
gesichert waren – wozu auch? Sie fand die Programme und Codes sehr schnell, mit denen es möglich war, in den Kern des Systems
einzudringen. Sie probierte es. Mit Erfolg.
Im Gegensatz zu Walter hatte sie keine Bedenken, sich auf diesem Wege Geld zu borgen, damit zu spekulieren und es anschließend
wieder zurückzugeben. Auf diese Weise sammelte sie langsam ein paar hunderttausend Dollar an, die sie unter anderem nutzte,
um mit Rick die geplante Galerie zu verwirklichen.
Wäre es an dem Abend von Jans Ankunft nicht zu dem Streit zwischen ihr und Walter gekommen, hätte alles noch |251| lange so weitergehen können. Kristin bereute ihren Entschluß, Walter zu verlassen und mit Jan durch den Kontinent zu fahren,
nicht, aber ausgerechnet in dieser Woche brachen ein paar der von ihr mit fremdem Geld gekauften Aktien ein. Sie erfuhr es
aus der
New York Times.
Danach kam ihr nichts mehr von dem, was an diesem Tag geschah, real vor. Sie wußte, sie hatte Walter ruiniert – nicht finanziell,
sie hatte genug verdient, um den Verlust ausgleichen zu können – aber sie hatte seinen Traum zerstört, den Traum vom erfolgreichen
Broker in New York. Sie hatte diesen Traum zerstört, und sie stellte fest, daß es sie kalt ließ. Dann trafen sie Hank und
Ariel.
Kristin nahm ein Nest aus Zeitungspapier aus der Schachtel; zurück blieb der
Panasonic -
Rekorder – Jans Rekorder. Sie hatte ihn damals eingepackt und wollte ihn zusammen mit Jans
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