Amnesie - Robotham, M: Amnesie - Lost
»Deshalb sollte man immer darauf achten, sich richtig zu verabschieden. «
Sie klammerte sich an jedes Detail – die Kleider, die Mickey trug, die Spiele, die sie spielte, die Lieder, die sie sang, die Art, wie sie die Stirn runzelte, wenn sie über etwas Wichtiges sprach, oder dass, wenn sie glucksend lachte, Milch aus ihren Nasenlöchern spritzte. Sie wollte sich an die tausend winzigen Einzelheiten und Alltäglichkeiten erinnern, die Licht und Schatten in ein jedes Leben bringen – selbst in ein so kurzes wie das von Mickey.
Ali findet mich in der Saftbar, und ich erzähle ihr, was Sarah gesagt hat.
»Sie werden Howard besuchen, nicht wahr, Sir?«
»Ja.«
»Hätte er die Lösegeldforderung stellen können?«
»Nicht ohne fremde Hilfe.«
Ich weiß, was sie denkt, auch wenn sie nichts sagt. Sie ist sich mit Campbell einig. An jeder möglichen Erklärung hängt das Wort »Schwindel«, einschließlich an derjenigen, die für Howards Entlassung sorgen würde.
Auf der Fahrt nach Wormwood Scrubs unterqueren wir den Westway in Richtung Scrubs Lane. Mädchen im Teenageralter spielen auf einem Sportplatz Hockey, während eine Gruppe Jungen im selben Alter zuschaut, fasziniert von den blau karierten Röcken, die über schlammigen Knien und Schenkeln wippen.
Wormwood Scrubs sieht aus wie die Kulisse für ein Musical aus den 50er Jahren, sauber geschrubbt für die Kameras. Die
Doppeltürme sind vier Stockwerke hoch, und in der Mitte liegt das riesige geschwungene Tor mit den eisernen Riegeln.
Ich versuche mir vorzustellen, wie Rachel Carlyle hier ankommt, um Howard zu besuchen. Ich sehe ein schwarzes Taxi im Hof halten, Rachel steigt aus, die Knie immer dicht beieinander. Sie geht vorsichtig über das Kopfsteinpflaster, darauf bedacht, sich nicht den Knöchel zu verdrehen. Trotz des Geldes ihrer Familie ist ihr der Glamour nie in Fleisch und Blut übergegangen.
Das Besucherzentrum liegt rechts vom Haupttor in einer Gruppe provisorischer Gebäude. Ehefrauen und Freundinnen haben sich bereits versammelt, manche mit zappelnden und zankenden Kindern.
Wenn man sie schließlich hereinlässt, müssen sie sich ausweisen. Ihre persönlichen Dinge werden in Schließfächern verstaut, die Geschenke kontrolliert. Jeder, der Kleidung trägt, die der Gefängniskluft zu ähnlich sieht, muss sich umziehen.
Ali blickt schaudernd an der viktorianischen Fassade hoch.
»Waren Sie je da drin?«
»Ein oder zwei Mal«, antwortet sie. »Man sollte das Ding abreißen. «
»Es dient der Abschreckung.«
»Bei mir wirkt’s.«
Ich lasse sie einen Moment allein, öffne den Kofferraum und nehme die Diamanten heraus. Zwei Päckchen passen in die Innentaschen meines Mantels, die beiden anderen in die Außentaschen. Ich lege den Mantel auf den Beifahrersitz.
»Ich möchte, dass Sie hier bleiben und auf die Diamanten aufpassen. «
Sie nickt. »Wollen Sie die Schutzweste nicht anziehen?«
»Ich glaube, im Gefängnis bin ich sicher.«
Ich überquere die Straße und zeige im Besucherzentrum meinen Dienstausweis. Zehn Minuten später steige ich zwei Treppenabsätze
hinauf und komme in einen großen Raum mit einem langen Tisch, der über die gesamte Länge von einer Barriere geteilt wird. Besucher bleiben auf der einen Seite, Gefangene auf der anderen.
Schritte von schweren Stiefeln hallen in den Fluren wider, bevor die Häftlinge hereingeführt werden.
Ich beobachte, wie ein junger Gefangener seine Frau oder Freundin begrüßt. Er küsst ihre Hand und will sie nicht loslassen. Sie beugen sich beide vor, als wollten sie die gleiche Luft atmen, seine Hand greift unter den Tisch.
Plötzlich packen die Schließer ihren Stuhl und reißen ihn zurück. Sie fällt zu Boden und hält schützend die Hände vor ihren geschwollenen Bauch, aber die Schließer zeigen kein Mitgefühl.
»Detective Inspector Ruiz, es zieht Sie immer wieder zu uns zurück.«
Der Gefängnisdirektor hat einen breiten, gewölbten Brustkorb, schütteres Haar und ist Ende vierzig. Er isst den letzten Bissen eines Sandwiches, tupft sich die Lippen mit einer Serviette ab, verfehlt jedoch die Eireste an seinem Kinn.
»Und was führt Sie erneut zu uns?«
»Muss das Ambiente sein.«
Er lacht rau und blickt durch die Plexiglasscheibe auf die Szenen des Wiedersehens.
»Wann war ich denn das letzte Mal hier?«
»Wissen Sie das nicht mehr.«
»Das Alter. Ich werde langsam vergesslich.«
»Vor etwa vier Wochen. Sie haben sich für die Frau interessiert, die Howard immer
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