Amnion 5: Heute sterben alle Götter
sie sie einschätzen sollte.
An Morn Hyland erinnerte Min sich gut, nicht nur aus der Zeit, als die Tochter der Hylands noch ein kleines Mädchen gewesen war, sondern auch an ihren Werdegang als Kadettin an der Polizeiakademie. Insbesondere wegen ihrer Eltern hatte Min ihr außergewöhnliche Beachtung geschenkt. Doch die Frau, die jetzt vor ihr stand, hatte sich in wahrlich dramatischem Umfang verändert.
Als Kadettin war Morn Hyland so schön gewesen, daß Min sie als nahezu blankgesichtig empfunden hatte, zwar vollkommen, aber ausdrucksarm; lediglich eine winzige Andeutung alten Kummers und – vielleicht – der Hartnäckigkeit in ihren Augen hatte ihren Gesichtszügen einen gewissen Charakter verliehen. Mittlerweile war ihre puppenhafte Schönheit verschwunden. Sie hatte Gewicht verloren, sogar erheblich, so als hätte sie es verbrannt wie Treibstoff. Und die zwischenzeitlichen Erlebnisse hatten ihr Gesicht geprägt, die Glattheit ihrer Stirn und der Wangen verwüstet; an der Stirn, um die Augen sowie längs der Nase und um den Mund hatten sich Falten von solcher Schroffheit eingefurcht, als wären sie Abflußrinnen des Leids. Ihren Blick verdüsterten Zweifel und Bedenken, denen allerdings der einem scharfen Einschnitt vergleichbare Mund mit seinem Ausdruck kompromißloser Entschiedenheit widersprach.
Ein Gußverband umhüllte ihren rechten Arm; eine Schlinge fixierte ihn am Oberkörper.
Ihre freie Hand, so hatte es den Anschein, wollte sich vor der OA-Direktorin spontan zum Salut heben; aber sie brach die Bewegung vorzeitig ab.
Zwei männliche Begleiter flankierten ihre Schultern: Angus Thermopyle und ein wesentlich jüngerer Mann, der mit ihm erstaunliche Ähnlichkeit hatte.
Angus Thermopyle stand mit lockeren Armen und nach vorn gekehrten Handflächen da, als legte er Wert darauf zu zeigen, daß er keine Absicht hegte, auf irgend jemanden loszugehen. Im großen und ganzen wirkte er unverändert, seit Min ihn das letzte Mal gesehen hatte. Möglicherweise war der boshafte Ausdruck seiner gelblichen Augen noch scheußlicher geworden; vielleicht verhieß sein bösartiges Feixen noch mehr Unheil als früher. In anderer Hinsicht jedoch sah, er wie der bärenstarke, schmuddligschmierige, kloßige Illegale aus, den Hashi Lebwohl in seinen Gewahrsam geholt und zum Cyborg hatte unifizieren lassen. Ein schwaches Hinken deutete eine Verletzung an, eventuell der Hüfte.
Der Jüngere mußte Davies Hyland sein. Dem anderen Bürschchen fehlten sämtliche Anzeichen einer Verwandtschaft mit Morn Hyland. Allerdings hatte Min ganz selbstverständlich erwartet, daß Davies Hylands Äußeres an Nick Succorso erinnerte. Mit einer Vaterschaft Angus Thermopyles hatte sie nicht gerechnet. Ausschließlich Davies’ Augenfarbe – genau die gleiche wie bei Morn Hyland – bewies dem aufmerksamen Beobachter, daß er keinen Klon Angus Thermopyles’ vor sich hatte.
Diese eine Einzelheit jedoch war von Belang; hatte größte Bedeutung. Aufgrund dieses Umstands nämlich bildeten seine Augen keine Spiegel Angus Thermopyles, sondern Morn Hylands. Der Geist hinter der vom Vater geerbten Visage war nicht durch Thermopyles habituellen Haß verdüstert und verstockt worden.
Die zweite Frau, Mikka Vasaczk, starrte mit bösem Gesichtsausdruck an Morn Hyland und Angus Thermopyle vorbei in Mins Richtung, ohne ihren Blick zu erwidern. Ein Kopfverband bedeckte zum Teil ihr rechtes Auge; ihr Schädel oder die Schläfe war verletzt. Deshalb und aus anderen Gründen erinnerte sie Min seltsamerweise an Warden Dios. Vasaczks Auftreten verriet allgemeine Tüchtigkeit, ihre gedrungene Statur und die kräftig entwickelten Hüften machten den Eindruck, daß sie stärker war, als sie aussah. Trotzdem wirkte sie, als wäre sie darüber froh, hinter der Leutnantin und Thermopyle bleiben zu dürfen, so als mochte sie keine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Oder vielleicht war es ihr Bruder Ciro, den sie im Hintergrund halten wollte; sie hatte eine Hand auf seiner Schulter liegen, als könnte er sich nur vom Fleck bewegen, wenn sie ihn anstieß; ihn führte.
Da Min nichts über sie wußte, mutmaßte sie, daß Mikka Vasaczk gewohnheitsmäßig Furcht durch Zorn unterdrückte.
Von den sechsen machte nur Vector Shaheed einen gelösten Eindruck. In seinen blauen Augen stand eine schlichte Ruhe, die zur auffälligen Angespanntheit seiner Begleiterinnen und Begleiter einen krassem Gegensatz abgab. Seine Bewegungen verliefen offensichtlich steif und bereiteten ihm
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