Amputiert
die Luft aus den Lungen gepresst; was aus seinem Mund kam, klang eher wie ein Reifen, dem die Luft ausging, denn wie ein Schmerzensschrei. Es gab überraschend wenig Blut, aber ich wusste, dass ich ordentlich Schaden angerichtet hatte. Allerdings war ich kein Trottel. Ich hatte genug billige Horrorstreifen gesehen, um zu wissen, dass man jemanden nicht mehr aufstehen lassen sollte, wenn man ihn erst auf dem Boden hatte. Also trieb ich die Klinge ein zweites Mal in Jacksons Brust, dann ein drittes Mal und bald ein zehntes Mal. Ich bin nicht sicher, wie oft ich insgesamt zustach oder wann der Wachmann tot war, aber als ich mich von ihm rollte, war seine Brust zerstört, und es bestand keine Gefahr, dass er mich von hinten angreifen würde, sobald ich ihm den Rücken zukehrte.
Junie!
Ich musste ihr helfen.
Gott, bitte mach, dass es ihr gutgeht , betete ich, doch tief in meinem Herzen wusste ich, dass dem nicht so sein würde. Sie hatte sich nicht gerührt, seit ich sie fallen gesehen hatte. Ich sank zu Boden, hob sie in meine Arme und half ihr mit einer Hand, mir das Gesicht zuzudrehen. Ihr Blick wirkte verschwommen und entfernt, aber mit einer heroischen Anstrengung gelang es ihr, sich zusammenzureißen und mich anzusehen.
»Warum, Junie?«, fragte ich mit Tränen in den Augen, überwältigt von ihrem Opfer. »Warum haben Sie für mich eine Kugel abgefangen? Wir kennen einander doch kaum.«
Sie wurde rasch schwächer; Blut blubberte aus ihren Mundwinkeln hervor und strömte aus der schweren Bauchverletzung. »Weil die Ihnen genug angetan haben«, flüsterte Junie. »Ich konnte nicht mit dem Wissen leben ...«
Das war alles. Das Licht in ihren Augen erlosch, und Junie erschlaffte, lag tot in meinen Armen, hatte nicht mehr die Kraft, den Satz zu beenden. Aber sie hatte alles gesagt, was nötig war; ich zog sie dichter an mich und hielt sie fest, während ich um sie, ihren verkrüppelten Sohn und ihren sinnlosen Tod weinte. Hätte ich die Plätze mit ihr tauschen können, ich hätte es mit Freuden getan.
Ohne zu zögern.
Ich schloss die Augen und betete darum, dass die Welt verschwinden möge.
Kapitel 34
Was für eine Überraschung – meine Gebete blieben unerhört. Als ich die Augen wieder aufschlug, war die Welt noch da, kalt und faulig wie eh und je, und zu meinen Füßen lagen zwei Leichen, die es bewiesen.
Ich holte tief Luft, um meine angespannten Nerven zu beruhigen, dann rappelte ich mich auf die Beine. Ich verbrachte einige Minuten damit, Junie mit Laub zu bedecken und mich von ihr zu verabschieden. Sie hatte ein besseres Grab und Begräbnis verdient, aber die Zeit drängte, und ein Leichentuch aus Laub war alles, was ich ohne Schaufel oder sonstige Werkzeuge bewerkstelligen konnte. Jackson ließ ich liegen. Er sollte an Ort und Stelle verrotten, wie er es mir zugedacht gehabt hatte. Meinetwegen sollten ihm die Vögel die Augen herauspicken und sich der Rest der Waldtiere und die Käfer seinen übrigen Körper untereinander aufteilen. Ich musste weiter. Ich wollte den größtmöglichen Abstand zwischen mich und diesen Ort bringen, bevor jemand bemerkte, dass Jackson nicht zurückkam.
Ich hatte etwa hundert Meter auf dem Pfad zurückgelegt, als ich hinter der nächsten Biegung schließlich auf Drakes Friedhof stieß.
Mein Gott!
Der Pfad wurde nicht wesentlich weiter, höchstens sechs Meter an der breitesten Stelle, aber da waren überall Grabmale, kleine weiße Holzkreuze, die den Weg und den Waldboden zu meiner Linken und Rechten überzogen. Ich machte mir nicht die Mühe, sie zu zählen, aber es mussten gut sechzig oder siebzig sein – vielleicht sogar hundert.
Einen solchen Anblick hatte ich nicht erwartet. Warum sollte Drake die Gräber kennzeichnen? Leichen zu entsorgen, war eine Sache – die Tiere und die Elemente würden sie im Nu verschwinden lassen; aber die Gräber zu kennzeichnen, schien mir eine dumme Idee zu sein. Was, wenn die Polizei je etwas von diesem Ort erführe? Drake und Dr. Marshall wären am Arsch. Ich konnte nicht glauben, dass sie das zulassen würden. Es sei denn, sie waren beide so arrogant und unverschämt dumm zu denken, sie stünden so weit über dem Gesetz, dass sie tun konnten, was sie wollten, ohne die Konsequenzen zu berücksichtigen. Das war es – musste es sein. Eine andere Antwort gab es für diesen Ort des Bösen nicht. Und genau das war er. Böse. Ein Schrein für Nathan Marshalls Gottkomplex, eine Verhöhnung der armen Seelen, die hier kurzerhand begraben
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