Amputiert
worden waren, um Drakes gestörtes Superego zu streicheln.
Dies waren die Männer und Frauen aus der Zeit vor der Verbrennungsanlage, hatte Drake gesagt. Wie viele mehr waren seither gestorben? Wie viel Asche war in den Wald geschüttet worden, auf dass der Wind sie verstreute. Wahrscheinlich mehr, als hier an Menschen lag – viel mehr.
Mein Gott ... all diese Leute!
Da wurde mir das volle Ausmaß von Dr. Marshalls Wahnsinn klar. Ich hatte gewusst, dass er völlig übergeschnappt und Drake keinen Deut besser war, aber mir war nicht bewusst gewesen, wie abartig und grausam sie wirklich waren. Dieser Friedhof bereitete mir Übelkeit. Und machte mich stinksauer.
Jemand musste diese Schweine aufhalten.
Jemand, der nichts zu verlieren hatte, jemand, der glaubte, dass Vergeltung wichtiger als seine eigene Sicherheit war.
Jemand wie ich.
Das klang gut. Es klang nach etwas, das der Held in einem großen Actionstreifen sagen würde. Das Problem war nur, hier ging es um mein Leben, nicht um einen Film, und ich war alles andere als ein Held. Weit gefehlt. Andererseits stimmte durchaus, dass ich nichts zu verlieren hatte. Und irgendjemand musste Dr. Marshall und seinem durchgeknallten Kumpel Drake das Handwerk legen.
O Mann, wie konnte es je so weit kommen?
Tief in meinem Inneren wusste ich, dass ich meine Entscheidung bereits getroffen hatte. Ich versuchte bloß, sie noch einige Sekunden hinauszuzögern. Die Freiheit war letztlich in Reichweite, doch ich konnte nicht einfach weggehen. Ich wusste, dass ich nicht dazu in der Lage war. Mein Gewissen, das schon immer störrisch wie ein Esel gewesen war, würde es nicht zulassen. Zu viele Menschen hatten hier gelitten. Zu viele riefen mir aus ihren namenlosen Gräbern zu, gequälte Seelen, die mir das Wort Rache ins Ohr flüsterten. Sie verdienten Vergeltung – sie alle, aber besonders Junie. Wie könnte ich einfach davongehen?
Scheiß drauf. Marshall und Drake werden untergehen!
Ich hatte keine Ahnung, was ich unternehmen sollte oder ob es überhaupt in mir steckte, ein solches Unterfangen durchzuziehen, aber als ich mich umdrehte und mich zurück zur Burg in Bewegung setzte, fühlte ich mich gut mit meiner Entscheidung. Ich hatte Angst – verdammt, wer hätte keine gehabt –, aber auf angenehme Weise fühlte ich mich dadurch zum ersten Mal seit Jahren lebendig. An diesem Tag hatte ich die Chance, mehr als bloß ein entbehrlicher Penner oder ein zusammengeflickter Freak zu sein. An diesem Tag konnte ich zum großen Rächer werden, zum Hammer der Gerechtigkeit – ein Held für die Toten und Geknechteten weltweit. Damit schoss ich natürlich weit übers Ziel hinaus, redete mir wirres Zeug ein, aber ich musste wieder an mich glauben – richtig an mich glauben, und das hatte ich schon vor dem Autounfall, der meine Familie zerstört hatte, nicht mehr getan.
An der Stelle, wo Junie und Jackson gestorben waren, blieb ich stehen, um nachzusehen, ob der Wachmann etwas bei sich hatte, das nützlich sein konnte. Natürlich schnappte ich mir seine Pistole und stellte zufrieden fest, dass das Magazin noch fast voll mit Patronen war. Außerdem fand ich eine kleine, schwarze Stablampe und ein Einwegfeuerzeug der Marke Bic , aber was mich schockierte und mich aus Angst und Wut zum Zittern brachte, war ein weißes Holzkreuz, das in seiner Jackentasche steckte.
Ein weiteres Grabmal.
Meins.
Die Taschenlampe und das Feuerzeug steckte ich zu Junies Klappmesser in meine Tasche, aber das Kreuz hatte einen zwölf Zentimeter langen vertikalen Schaft und war zu groß, um hineinzupassen. Ich spielte mit dem Gedanken, es wegzuwerfen, aber es hatte an einem Ende eine Spitze, die sich vielleicht als Waffe verwenden ließe. Ich steckte es unter meine Jacke und beschloss, das verfluchte Ding mitzunehmen. Die Pistole hielt ich schussbereit in der Hand. Ob Sie es glauben oder nicht, in meinem Hinterkopf bildete sich bereits der Ansatz eines Plans. Ich versuchte nicht, etwas zu erzwingen, ließ die Gedanken einige Minuten köcheln, während ich etwas Laub über Jacksons Leiche trat. Man würde bald nach ihm suchen, und ihn zu bedecken, würde mir vielleicht einige zusätzliche Minuten verschaffen, bevor meine beste Waffe – das Überraschungsmoment – für immer verpuffte. In der Zwischenzeit musste ich meinen Hintern in Bewegung setzen.
Ich brach im Laufschritt den Pfad entlang auf. Na ja, eigentlich war es eher ein schnelles Humpeln, mehr brachte ich nicht zustande. Ich musste es zurück
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