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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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aufgewacht und mußte sein Gesicht betasten, um sich zu vergewissern, daß er ein Körperwesen geblieben war.
    Hätte Vernon einige seiner leitenden Angestellten in der Kantine beiseite genommen und ihnen sein Leid geklagt, es hätte ihn vielleicht bestürzt, wie wenig erstaunt sie gewesen wären. Er galt weithin als ein Mann ohne Kanten, ohne Fehler oder Tugenden, als ein Mann, der nicht vollständig existierte. Innerhalb seiner Berufsgruppe wurde Vernon als Nullität verehrt. In den Weinbars der City erzählte man sich oft, wie er zum Chefredakteur des Judge aufgestiegen sei – ein kaum zu überbietendes Wunder, das in der Zeitungswelt zur Legende geworden war. Vor Jahren war er der stets verbindliche und emsige Adjutant zweier begabter Chefredakteure hintereinander gewesen und hatte ein instinktives Talent dafür bewiesen, weder Freunde noch Verbündete für sich zu gewinnen. Als der Washington- [41]  Korrespondent erkrankte, wurde Vernon beordert, für ihn einzuspringen. Im dritten Monat verwechselte ihn ein Kongreßabgeordneter auf einem Dinner für den deutschen Botschafter mit einem Reporter der Washington Post und gab ihm einen Wink über eine Indiskretion des Präsidenten – eine auf Kosten der Steuerzahler durchgeführte Haarwurzelimplantation. »Pategate« – eine Story, die die amerikanische Innenpolitik fast eine Woche lang beherrschte – galt in der Folge als eine Enthüllung von Vernon Halliday, dem Korrespondenten des Judge.
    Daheim in London löste unterdessen in blutigen Schlachten mit einem Herausgebergremium, das sich in alles einmengte, ein begabter Chefredakteur den anderen ab. Vernons Rückkehr fiel zeitlich mit einer unvermuteten Neuorientierung der Eigentümer zusammen. Die Theaterbühne war mit den zerstückelten Gliedern und Torsi von Titanen übersät, die zurechtgestutzt worden waren. Jack Mobey, der von den Herausgebern selbst dazu auserwählte Posteninhaber, hatte es nicht vermocht, das angesehene Qualitätsblatt hinreichend auf den Massenmarkt auszurichten. So blieb niemand anderes übrig als Vernon.
    Nun saß er an seinem Schreibtisch und massierte sich zögernd die Kopfhaut. In letzter Zeit hatte er bemerkt, daß er mit seiner Nichtexistenz zu leben lernte. Er konnte nicht lange das Ableben von etwas betrauern, an das er sich kaum noch zu erinnern wußte – sein Selbst. All das bereitete ihm Sorgen, aber Sorgen, die schon so manchen Tag alt waren. Inzwischen machte sich ein körperliches Symptom bemerkbar. Es hatte mit der rechten Seite seines Kopfes zu tun, mit seinem Schädel wie mit seinem Gehirn, eine [42]  Empfindung, für die es einfach kein passendes Wort gab. Vielleicht war es auch die plötzliche Unterbrechung einer so konstanten und vertrauten Empfindung, daß er ihrer nie innegeworden war – wie ein Laut, den man erst in dem Augenblick aufnimmt, da er verstummt. Er wußte genau, wann es angefangen hatte, am Vorabend, als er sich vom Eßtisch erhob. Es war dagewesen, als er morgens erwachte, unaufhörlich und undefinierbar, weder kalt noch angespannt noch benommen, sondern irgendwo dazwischen. Vielleicht war »tot« das richtige Wort. Seine rechte Gehirnhälfte war wie abgestorben. Er kannte so viele Menschen, die gestorben waren, daß er in seinem jetzigen Zustand der Auflösung das eigene Ende allmählich als Alltäglichkeit betrachten konnte – als hektische Beerdigung oder Einäscherung, als einen kurz aufflackernden Schmerz, der alsbald wieder schwand, während das Leben weiterhastete. Vielleicht war er längst gestorben. Oder vielleicht, und dieses Empfinden hatte er stark, benötigte er nichts weiter als ein paar feste Schläge mit einem mittelgroßen Hammer auf die Schläfe. Er öffnete seine Schreibtischschublade. Darin lag ein Lineal aus Metall, das Mobey zurückgelassen hatte, der vierte Chefredakteur in rascher Folge, dem es nicht gelungen war, den Abwärtstrend des Judge umzukehren. Vernon Halliday bemühte sich, nicht der fünfte zu sein. Er hatte das Lineal eben mehrere Zentimeter über sein rechtes Ohr gehoben, als es an der offenen Tür klopfte.Seine Sekretärin Jean trat ein, und er mußte den Schlag in ein nachdenkliches Kratzen umwandeln. »Der Tagesplan. Zwanzig Minuten.« Sie zog einen Bogen aus ihrem Packen [43]  Papier hervor und reichte ihn ihm. Den Rest legte sie im Hinausgehen auf den Konferenztisch.
    Er überflog die Liste. Im Auslandsteil schrieb Dibben über »Garmonys Triumph in Washington«. Das mußte ein skeptischer oder

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