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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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feindseliger Artikel werden. Und falls es sich wirklich um einen Triumph handelte, gehörte er nicht unbedingt auf die erste Seite. Auf den Inlandsseiten gab es endlich den Beitrag des Wissenschaftsredakteurs über die Anti-Schwerkraft-Maschine einer walisischen Universität. Das würde garantiert Aufsehen erregen, und Vernon hatte lange darauf gedrängt. Halb träumte ihm von einem Ding, das man sich unter die Schuhsohlen schnallte. Aber jetzt stellte sich heraus, daß der Apparat vier Tonnen wog, neun Millionen Volt erforderte und nicht funktionierte. Dennoch wollten sie den Artikel bringen, unten auf der ersten Seite. Ebenfalls unter Inlandsnachrichten fand sich das »Klavierquintett« – Vierlinge, mit denen ein Konzertpianist gesegnet worden war. Vernons Stellvertreter, zusammen mit der Feature-Redaktion und dem gesamten Inlandsressort, lag sich deswegen mit ihm in den Haaren. Ihre Pingeligkeit kaschierten sie mit vorgeschobenem Realismus. Vierlinge reichten heutzutage nicht aus, behaupteten sie, und niemand habe je von der Mutter gehört, die nicht einmal hübsch sei und jedes Interview mit der Presse verweigere. Vernon hatte ihre Einwände zurückgewiesen. Im vergangenen Monat war die Zahl der Leser aus gehobenen Bildungs- und Einkommensschichten gegenüber dem Vormonat um siebentausend gesunken. Dem Judge verblieb nicht mehr viel Zeit. Er überlegte immer noch, ob er eine Story über siamesische Zwillinge aufnehmen [44]  sollte, die an den Hüften miteinander verwachsen waren (der eine hatte ein schwaches Herz, so daß man sie nicht trennen konnte) und die sich eine Stelle in der Kommunalverwaltung beschafft hatten. »Wenn wir dieses Blatt vor dem Untergang bewahren wollen«, ließ sich Vernon bei der morgendlichen Redaktionskonferenz gern vernehmen, »müßt ihr euch alle die Hände schmutzig machen.« Jeder nickte, keiner stimmte ihm zu. In den Augen der alten Hasen, der Grammar-School-Absolventen oder »Grammatiker«, stand und fiel der Judge mit seiner intellektuellen Redlichkeit. In dieser Auffassung fühlten sie sich sicher, denn abgesehen von Vernons Vorgängern war noch nie jemand von der Zeitung entlassen worden.
    Gerade traten die ersten Ressortleiter und ihre Stellvertreter ein, als Jean ihm von der Tür aus zuwinkte, den Telefonhörer abzunehmen. Es mußte sich um etwas Wichtiges handeln, denn sie hauchte einen Namen. George Lane, sprachen ihre Lippen.
    Vernon kehrte dem Zimmer den Rücken zu. Ihm fiel ein, daß er Lane bei der Beisetzung aus dem Weg gegangen war. »George. Ein zutiefst ergreifender Anlaß. Ich wollte dir schon ein paar Zeilen…«
    »Ja, ja. Mir ist da etwas in die Hände gefallen. Ich finde, du solltest einen Blick darauf werfen.«
    »Worum handelt es sich?«
    »Um Fotos.«
    »Könntest du sie vorbeibringen lassen?«
    »Ausgeschlossen. Ganz, ganz heiße Ware. Kannst du nicht umgehend vorbeikommen?«
    Die Verachtung, die Vernon für George Lane empfand, [45]  hatte nur zu einem Teil mit Molly zu tun. Lane gehörten eineinhalb Prozent der Anteile am Judge , und er hatte in die neue Aufmachung des Blattes, mit der Jack Mobeys Sturz und Vernons Aufstieg besiegelt worden war, Geld investiert. George hatte das Gefühl, daß Vernon ihm etwas schuldig war. Außerdem verstand George nichts vom Zeitungsgeschäft, weshalb er des Glaubens war, der Chefredakteur einer überregionalen Tageszeitung könne morgens um elf Uhr dreißig einfach so aus seinem Büro schlendern, um quer durch London zum Holland Park zu fahren.
    »Ich habe gerade alle Hände voll zu tun«, sagte Vernon.
    »Ich tue dir einen riesigen Gefallen damit. Die News of the World würde sich alle Finger danach abschlecken.«
    »Ich könnte heute abend nach neun vorbeikommen.«
    »Na schön. Bis dann«, sagte George verstimmt und legte auf.
    Inzwischen waren sämtliche Sessel um den Konferenztisch besetzt bis auf einen, und als Vernon sich auf diesem niederließ, erstarb die Unterhaltung. Er betastete seine Schläfe. Jetzt, da er sich wieder in Gesellschaft befand, bei der Arbeit, war seine innere Abwesenheit kein Leiden mehr. Die Ausgabe vom Vortag lag ausgebreitet vor ihm. In das fast vollkommene Schweigen hinein sagte er: »Wer hat den Leitartikel zur Umwelt redigiert?«
    »Pat Redpath.«
    »In dieser Zeitung wird kein Satz mit ›weil‹ angefangen, besonders nicht in einem Leitartikel, Himmel noch mal. Und in der indirekten Rede…« – der dramatischen Wirkung halber ließ er seine Stimme verhallen, während er so tat,

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