An einem Tag im Januar
es hat Schnee, und es hat Glühwürmchen.
Zieh dich an, drängte sie ihn. Zieh dich an, und komm mit mir raus.
Ihm war nicht danach. Allie wusste von Brendan und von Chloe, so viel sich daran in Worte fassen ließ – aber wie sollte er ihr erklären, dass er vor Sekunden erst Brendan verloren hatte, dass in seinem Ohr Chloes Schluchzen nachklang? Dass er zwar wach war, aber die beiden immer noch hörte ?
So etwas war nicht zu erklären, weder ihr noch sonst jemandem. Also zog er sich an, stieg in seine Stiefel und stapfte mit Allie los.
Sie wohnten im German Village, einem eleganten historischen Viertel gleich südlich des Stadtzentrums. Sie waren letzten Sommer zusammengezogen, sechs Monate nach dem Beginn ihrer Beziehung. Die Straßen hier waren kopfsteingepflastert, die Häuser stammten noch aus dem neunzehnten Jahrhundert, klobige Backsteinkästen, die direkt an den von riesigen Bäumen überwölbten Gehsteig grenzten. Die schwere, glatte Schneedecke an diesem Morgen gab der Luft etwas seltsam Abgedämpftes, als bewegten sie sich in einem schalldichten Raum. Weiße Lichterketten brannten in den Fenstern ihrer Nachbarn – bei Mark und Allie noch nicht, sie waren beide zu eingespannt gewesen, um mit den Weihnachtsvorbereitungen anzufangen – und schlangen sich um die Laternenpfähle an den Straßenecken. Eine einsame Reifenspur teilte die Fahrbahn in der Mitte; wäre sie nicht gewesen, hätte es Mark nicht verwundert, einen Pferdeschlitten vorbeiklirren zu sehen.
Allie stieß die Stiefelspitzen in den Schnee, duckte sich quietschend unter den kleinen Lawinen weg, die von den Ästen herabstürzten. Mark hinter ihr schüttelte den Traum langsam ab und fand zurück in die Gegenwart.
Er war achtunddreißig. Chloe hatte ihn vor sechs Jahren verlassen, nicht lange nach Brendans Tod. Jetzt liebte er Allison Daniel.
Gegen seine Träume war er machtlos, aber in den Jahren einsamen Trauerns hatte er es gelernt, seine Seele von ihren grauen Abgründen und Dickichten wegzulotsen, sie zurückzusteuern in die Welt, in der sein Körper sich bewegte, sein Herz schlug und seine Lunge kalte Luft einatmete; in der eine Frau, die er liebte, sich an dem Schnee freute wie ein Kind. Das war jetzt sein Leben. Sein neues Leben.
Er war nicht so naiv zu glauben, dass man das Glück einfach nur wollen musste. So etwas war Blödsinn erster Güte, das hatte für ihn auch schon festgestanden, bevor sich sein Sohn innerhalb von Sekunden die Treppe hinunter- und aus der Welt katapultiert hatte. Aber man konnte seinen Weg so wählen, dass das Glück eine Chance hatte. Man konnte das Glück da suchen, wo es sich finden ließ. Zu dem Schluss kamen er und Allison, die selbst eine Scheidung hinter sich hatte, immer wieder. Keiner von ihnen hatte ihre Beziehung geplant . Planen war zwecklos. Man musste bereit sein, einfach zu improvisieren.
Allison hob die Hand und ließ einen tiefhängenden Ast schnalzen; Schnee rieselte herab. Er sah ihr zu, und Dankbarkeit wallte in ihm auf, dass er an einem solchen Morgen nicht allein war.
Allison Daniel, sagte er.
Sie drehte sich um. Ihre Wangen und Lippen waren glühend rot, in ihrem schwarzen Haar hingen Schneeflocken. Mark Fife?, sagte sie.
Er fing sie ein und küsste sie. Eiskalt ihre Lippen. Dahinter ein winziges warmes Züngeln.
Was soll das jetzt werden?, fragte sie.
Seit Wochen schon wollte er ihr einen Antrag machen. Jetzt hätte er nur zu sprechen brauchen. Die Worte waren ganz dicht an der Oberfläche. Heirate mich. Bitte.
Aber er sagte es nicht. Was wohl?, sagte er stattdessen.
Du sprichst in Rätseln, sagte sie. Sie stemmte die Hände gegen seine Brust. Komm jetzt. Trinken wir einen Kaffee.
Und schlagartig schwand sein Glücksgefühl. Warum hatte er sie nicht gefragt? Sie wartete darauf, da war er sich mittlerweile sicher. Er folgte ihr ins Cup O’Joe, stumm, seine Lippen versiegelt wie vorhin im Traum.
Als er durchs Fenster den Blick der fremden Frau spürte, war Mark gerade dabei, neuerlich Anlauf zu nehmen. Während sie bei ihrem Kaffee saßen, hatte seine Stimmung sich gehoben; er hatte Allie dazu zu überreden versucht, sich krankzumelden, bei ihm daheim zu bleiben – Mark entwarf Websites für ortsansässige Unternehmen und arbeitete zu Hause, so dass er sich seine Zeit frei einteilen konnte. Schließlich hatte Allie mit einem Lächeln gefragt: Und was hab ich davon?
Sie weiß es, dachte er. Mach schon.
Sein Zögern dauerte zu lang. Allies Lächeln verlosch. Und als sie
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