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An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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fangen noch einmal von vorne an. Es war wie das Echo eines Echos. Bald darauf ist er gestorben.«
    Er sagte, er ziehe die späten Aufnahmen Chet Bakers den früheren vor. Da gehe es nicht mehr um den perfekten Sound. Da gebe es Brüche, kleine Fehler und Ungenauigkeiten. Die Musik sei lebendiger, das Scheitern möglich geworden oder sogar unausweichlich. Delphine fragte, wer das sei, Chet Baker. Sie sagte, sie höre selten Jazz.
    Als sie die
Périphérique
an der Porte d’Italie verließen, fragte Delphine, ob sie nicht doch lieber nach Südfrankreich oder nach Italien fahren sollten.
    »Wir können machen, was wir wollen«, sagte sie. »Wir sind ganz frei.«
    Andreas sagte nichts. Er war lange nicht Auto gefahren und musste sich auf den Verkehr konzentrieren. Delphine lehnte sich zurück und schaute aus dem Fenster.
Später hörten sie die Kassetten, die Andreas mitgebracht hatte, Rockmusik, die er früher gemocht hatte, und Chansons, die Delphine fürchterlich fand. Bei Francis Cabrel sang Andreas mit:
    J'aimerais quand meme te dire
tout ce que j'ai pu écrire
je l’ai puisé à l’encre de tes yeux
    Delphine lachte und sagte, ihre Augen seien braun, nicht blau. Andreas sagte, die Musik erinnere ihn an seine Jugend. Damals habe er noch Gedichte geschrieben, wenn er verliebt gewesen sei.
    »Erotische Gedichte?«
    »Ich glaube, die waren eher sentimental.«
    »Das würde man dir gar nicht zutrauen«, sagte Delphine. »Ein Funken Liebe in einem gefrorenen Herz.«
    Sie sagte es im Scherz, aber Andreas war doch ein wenig überrascht. Er hatte sich nie als einen kalten Menschen betrachtet, aber es war nicht das erste Mal, dass er diesen Vorwurf hörte.
C'était l’hiver dans le fond de son cœur
, sang Francis Cabrel. Andreas erinnerte sich, wie ihn dieses Lied gerührt hatte und wie er zusammen mit dem Sänger den Tod jenes Mädchens betrauert hatte, das sich am Abend seines zwanzigsten Geburtstags umbringt. Delphine sagte, das sei ja nicht auszuhalten. Sie drückte auf die Eject-Taste und zog eine andere Kassette aus der Plastiktüte, die zu ihren Füßen lag. Sie legte sie ein, es war einen Moment lang still, dann war eine sympathische Frauenstimme zu hören.
Abschnitt sieben, die Reflexivpronomen.
    Andreas wollte die Kassette herausnehmen, aber Delphine legte ihre Hand auf seine, und sie hörten die Frau langsam und deutlich die Beispielsätze herunterlesen.
    Morgen sehe ich Sie wieder. Morgen sehen Sie mich wieder. Morgen sehen wir euch wieder. Morgen seht ihr uns wieder. Die Eltern sehen ihre Kinder wieder. Die Kinder sehen ihre Eltern wieder.
    Dann sprach eine ebenso sympathische Männerstimme.
    Mein Tagesablauf. Morgens stehe ich um halb sechs auf. Ich stehe immer so früh auf, denn ich muss um acht Uhr in der Firma sein. Nur samstags und sonntags kann ich länger schlafen. Nach dem Aufstehen gehe ich ins Bad, putze mir die Zähne und dusche mich, zuerst warm und zum Schluss kalt. Danach bin ich richtig wach und fühle mich wohl. Dann ziehe ich mich an und kämme mich. Anschließend gehe ich in die Küche und frühstücke. Ich koche mir einen Kaffee, esse ein Brot mit Marmelade oder mit Wurst oder Käse ...
    Die Stimme des Mannes hatte etwas Heiteres. Es klang, als habe er sich ganz dem Lauf der Tage und der Jahre ergeben, seinem Schicksal ohne Nebensätze.
    »Ich mich, du dich«, sagte Delphine und dann noch ein paar Mal, ich mich, bis es wie ein Wort klang.
    »Du bist der Ichmich«, sagte sie.
    »Ich dich«, sagte Andreas. Er nahm die Kassette aus
dem Gerät, und das Radioprogramm war wieder zu hören. Er fragte, ob sie den Text verstanden habe. Das meiste, sagte sie, es wundere sie nicht, dass niemand mehr Deutsch lernen wolle, wenn sie mit solchen Lehrmitteln arbeiteten. Wurst zum Frühstück.
    Bei Beaune verließen sie die Autobahn. Etwas außerhalb des Zentrums fand Andreas ein Ibis-Hotel und parkte den Wagen.
    »Ich habe mir meine Ferien etwas romantischer vorgestellt«, sagte Delphine.
    Andreas sagte, er habe keine Lust, in die Stadt hineinzufahren. Außerdem wolle er morgen früh los.
    Sie nahmen ein Zimmer und gingen noch einmal hinaus, um das Gepäck zu holen.
    »Sogar ein Schwimmbad haben sie«, sagte Delphine. »Was ist eigentlich in dem Bündel?«
    Sie zog an der Gardine, in die Andreas die Statuette eingewickelt hatte.
    »Lass das«, sagte er und schloss den Kofferraum.
    Delphine wollte vor dem Essen schwimmen, um sich ein wenig abzukühlen. Andreas sagte, er trinke inzwischen einen Aperitif.

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