Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
Vom Netzwerk:
Das Schwimmbecken war nicht groß. Es war eingezäunt und lag nur ein paar Schritte von der Terrasse des Hotelrestaurants entfernt. Andreas setzte sich an einen Tisch am Rand und bestellte einen Ricard. Es schien Delphine nicht zu stören, dass die Restaurantgäste sie beobachteten, als sie ins Wasser stieg und ein paar Bahnen schwamm. Sie kam wieder heraus, streifte mit der Hand das Wasser aus ihrem kurzen Haar und trocknete sich ab. Dann wickelte sie sich in das Badetuch und kam an
Andreas’ Tisch. Sie setzte sich und blätterte durch die Speisekarte.
    »Willst du hier essen?«, fragte sie.
    »Nicht unbedingt.«
    »Dann lass uns gehen.«
    Andreas begleitete Delphine aufs Zimmer und schaute ihr beim Umziehen zu. Sie zog einen hellgrünen Rock aus grobem Baumwollstoff an und einen dünnen schwarzen Strickpullover. Sie ging ins Bad und kam zurück mit rosarot geschminkten Lippen. Andreas hatte sie noch nie mit Lippenstift gesehen. Er sagte, sie sehe schön aus. Er fragte sich, was ihm an ihr gefiel, was Jean-Marc an ihr gefallen hatte.
     
    Sie gingen an der Autostraße entlang Richtung Innenstadt. Sie kamen an vielen Hotels vorbei, an einem Einkaufszentrum und an Kreisverkehren, die mit alten Weinfässern und Rebstöcken dekoriert waren. Die Altstadt war herausgeputzt. In jedem zweiten Haus war ein Weinkeller oder ein Restaurant. Delphine wollte sich die Kathedrale anschauen. Das Kirchenschiff war dunkel. Auf Knopfdruck ließen sich Lampen einschalten, die den Altar und eine besonders sehenswerte Kapelle beleuchteten. Delphine zündete eine Kerze an. Andreas fragte sie, für wen. Für niemand Bestimmten, sagte sie, auf Vorrat.
    »Jetzt schuldet mir der liebe Gott etwas.«
    »Für einen Euro wirst du kein großes Wunder erwarten können«, sagte Andreas.
    Die Stadt war voll von Touristen, sie verstopften die Straßen und besetzten die Tische der Gartenrestaurants.
Andreas war es überall zu laut und zu voll. Schließlich sagte er, draußen beim Einkaufszentrum habe er ein Restaurant gesehen. Delphine protestierte, aber dann gab sie nach.
    Als sie wieder am Einkaufszentrum waren, sahen sie, dass das Selbstbedienungslokal in einer halben Stunde schließen würde. Die Frau an der Kasse sagte, sie müssten sich beeilen. Sie holten sich an der Theke eine Vorspeise und bestellten ein Menü. Delphine wählte eine Flasche Wein aus.
    Es waren nur wenige Tische besetzt. Ein paar einzelne Männer waren da, eine Gruppe japanischer Touristen und eine Frau mit drei kleinen Kindern. Sie ging mit zweien der Kinder zur Toilette. Das dritte, ein Junge von vielleicht sieben Jahren, blieb allein am Tisch zurück. Er saß ganz still da, in Gedanken verloren. Andreas empfand plötzlich heftiges Mitleid mit ihm. Am liebsten wäre er zu ihm hingegangen und hätte mit ihm gesprochen oder ihm ein Eis gekauft. Dann kam die Mutter mit den beiden anderen zurück.
    »Schmeckt es dir nicht?«, fragte Delphine.
    Andreas sagte, er habe daran gedacht, wie sie in solchen Restaurants gegessen hätten, früher, als er ein Kind war.
    »Ich konnte mich nie entscheiden, was ich wollte. Meine Eltern drängten mich, und am Schluss nahm ich immer das Falsche. Ich hatte mich so darauf gefreut, und dann war es doch eine Enttäuschung.«
    Delphine sagte, sie habe es immer genossen, auswärts zu essen. Das sei selten genug vorgekommen. Ihre Mutter sei keine besonders gute Köchin.
    Das Restaurant des Hotels war geschlossen. In der Lobby saß eine Gruppe junger Mädchen, die sich auf Deutsch unterhielten. Vermutlich waren sie auf einer Klassenfahrt. Sie lachten und redeten laut durcheinander.
    Andreas dachte an die Abschlussreise seiner Klasse am Gymnasium. Sie waren nach Paris gefahren, vier Tage Sightseeing, drei Nächte in einem billigen Touristenhotel. Zum ersten Mal erinnerte er sich an Paris. Es war nicht die Stadt, in der er die letzten achtzehn Jahre gelebt hatte. Es war eine große Stadt im Herbst. Die Luft war klar wie Glas, und doch schien über allem ein feiner Nebel zu liegen, der die Sicht einschränkte und die Bilder an den Rändern umschattete. Die Bewegungen der Menschen waren verlangsamt, als befänden sie sich in einer Atmosphäre, schwerer als Luft.
    Das Hotel lag im Nordwesten der Stadt, in einer Gegend, in der Andreas nie mehr gewesen war seither. Er erinnerte sich noch an den Namen der Metrostation, La Fourche, wo eine Linie sich teilte. Der Klassenlehrer war nervös gewesen und hatte seine Schüler und Schülerinnen nicht aus den Augen

Weitere Kostenlose Bücher